Ein Sommer mit Danica
entfernt, und wartete. Noch ein Schuß … noch einer … jetzt mußte das Magazin leer sein.
Corell sprang auf und stürzte sich auf den Schatten, der gerade wegrennen wollte. Mit beiden Händen griff er zu, die Gestalt schlug um sich, sie kugelten gegen die Felswand und umklammerten sich, als wollten sie sich gegenseitig das Fleisch von den Knochen reißen. Corell drückte die Gestalt gegen die Bergwand und tastete mit der anderen Hand den Körper ab. Er faßte in etwas Weiches, in seiner Form so Unverkennbares, daß er verblüfft den Griff lockerte und einen Schritt zurücktrat.
»Verdammt, du bist ein Mädchen?« sagte er. Keuchend lehnte er sich an den Felsen und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Verstehst du etwas deutsch? Ich bin kein Feind! Ich – bin – kein – Feind!«
Das Mädchen atmete pfeifend, es konnte vor Erschöpfung kaum sprechen.
»Ne razumijem …«, keuchte es (Ich verstehe nicht.)
»Ich Doktor …« Corell hielt seine Rot-Kreuz-Fahne vor. Sie war durch den erbitterten Zweikampf an verschiedenen Stellen zerrissen, aber das internationale Zeichen der Hilfe war noch zu erkennen. »Ich ljekara …« Es war das slowenische Wort für Arzt, er hatte es gleich am ersten Tag gelernt, als er von einem deutschen Lazarett in Italien an die Balkanfront versetzt wurde. »Verstehst du mich? Ljekara … apoteka …«
»Du Deutscher …« Das Mädchen begann zu weinen. Es hatte Angst, preßte sich gegen die Felsen und zitterte. »Du mich tot …«
»Ich bin froh, daß ich selbst lebe«, sagte Corell. Er hatte sich erholt, konnte wieder tief durchatmen und begann jetzt sogar zu schwitzen. »Bring mich zu deinen Leuten. Wie heißt du?«
»Branka …«
»Du verstehst mich?«
»Ne …«
Das Mädchen schnellte plötzlich katzenhaft weg und wollte fortlaufen. Aber Corell war schneller und hielt es an den Haaren fest. Das Mädchen schrie hell auf und schlug wieder um sich.
»Verdammt, sei still!« sagte Corell. Er zog Branka an sich und hielt ihr den Mund zu. »Ich will raus aus den Felsen. Ich will nach Labin. Verstehst du – Labin! Ich bin ein ljekara –«
Der Widerstand Brankas ließ nach. Es war, als würden sich ihre Knochen auflösen. Sie hing in seinen Armen, er ließ die Hand von ihrem Mund und wartete darauf, daß sie sofort wieder zu schreien anfing. Aber sie blieb still, bewegte sich sogar und begann, schwankend vor ihm herzugehen. Corell folgte ihr, seinen einzigen Schutz, die zerrissene Rot-Kreuz-Fahne wieder in der linken Hand tragend. Erst jetzt spürte er, daß sein linkes Bein brannte und Blut den Strumpf verklebte. Die Tablettenröhrchen waren bei dem Kampf zerbrochen, und die Glassplitter hatten sich in sein Bein gebohrt.
Es war nur eine kurze Strecke auf dem schmalen Weg, dann zweigte ein Pfad von ihm ab, fast nur eine schmale Felsspalte, die sich in die Tiefe zog, als sei der Berg einmal zerhackt worden. Dann weitete sich der Weg, und Corell sah einen schwachen Lichtschein. Feuer.
Sie kamen vor einen gewölbten Höhleneingang, und hier stand, vom offenen Feuer im Inneren der Höhle umlodert, ein Junge von vielleicht zehn Jahren, eine Eisenstange in der Hand, starrte den großen Deutschen mit bebenden Lippen an und hob die Stange, um mit ihr zuzuschlagen. Ein letztes verzweifeltes Wehren gegen den Tod. Corell blieb stehen, und Branka rief ein paar Worte. Der Junge senkte die Eisenstange, sah Corell mißtrauisch an und nickte.
Aus der Höhle kam eine Frau. Sie trug einen Mantel, aus Decken zusammengeschneidert, eine Mütze aus Filz, die sie weit über die Ohren gezogen hatte, und ihre Hände steckten in dicken, schafwollenen Strümpfen. Die Frau sah Corell groß an, und es waren herrliche Augen, mutig und demütig zugleich.
»Wir sind vier Frauen und sechs Kinder«, sagte sie in fehlerfreiem Deutsch. »Erschießen Sie zuerst die Kinder, damit sie dieses Morden nicht so lange ansehen müssen. Das Jüngste ist sieben Monate alt … Zieren Sie sich nicht … wir sind jetzt zum Sterben bereit …«
So lernte Dr. Corell in einer Höhle bei Rasa Clara Soffkov kennen. In einer Oktobernacht 1943.
17
Dr. Corell sah sich um.
Das Mädchen, das er gezwungen hatte, ihn zu der Höhle zu bringen, hatte sich auf die Knie geworfen, die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte lautlos. Im Inneren der Höhle war es still bis auf das Knistern des Feuers. Dort hockten jetzt drei Frauen und vier Kinder an den kalten Steinwänden, hatten sich in Decken gewickelt, waren eng
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