Ein Sommer mit Danica
zusammengekrochen, eine einzige zitternde Masse Mensch, die darauf wartete, vernichtet zu werden. Als das kleinste der Kinder zu weinen begann, legte ihm die Mutter beide Hände vor den Mund und sprach leise auf es ein. Nur der zehnjährige Junge vor dem Eingang der Höhle, gedrungen, schon breit und kräftig in den Schultern, mit einem Ausdruck im Gesicht, der mehrere Jahre seiner Entwicklung übersprang, hielt noch immer die Eisenstange in den Fäusten und starrte den Deutschen finster an. Er wußte, daß er keine Chancen hatte, aber man sah ihm an, daß er versuchen würde, zuzuschlagen, um nicht völlig wehrlos unterzugehen. Er war in dieser Nacht zu einem Mann geworden, ein Mann von zehn Jahren, der vier Frauen und fünf Kinder beschützen mußte.
»Warum sollte ich Sie töten?« fragte Corell heiser.
»Was könnt ihr Deutschen anderes? Ihr seid über unser Land gefallen wie die apokalyptischen Plagen. Wo ihr hintretet, hinterlaßt ihr nur Vernichtung.« Die Frau mit den wollumwickelten Händen hob stolz den Kopf. Ihre Augen waren blau, mit einem Schimmer ins Grüne, der jetzt im Widerschein des Feuers phosphoreszierte. »Nun schießen Sie doch! Zeigen Sie, wie gut die Deutschen töten können …«
»Sie sind sehr mutig«, sagte Corell mit zugeschnürter Kehle. »Sehr mutig.«
»Am Rande des Grabes ist Mut nichts anderes als nackte Wahrheit. Worauf warten Sie noch?« Die Frau zeigte mit der rechten umwickelten Hand in die Höhle. »Wollen Sie hineingehen oder soll ich sie einzeln herausrufen?«
»Ich werde hineingehen.« Dr. Corell zögerte, dann warf er den Riemen der Maschinenpistole von seiner Schulter und legte die Waffe auf den Boden. Der Junge starrte ihn an, ließ plötzlich die Eisenstange fallen und sprang mit einem katzenhaften Satz auf die MPi. Im Fallen riß er sie hoch und legte sie auf Corell an.
»Laß das, Ivo«, sagte Clara Soffkov. »Du kannst damit nicht umgehen.«
»Mein Vater hat mir den Mechanismus erklärt!« stotterte der Junge. Er drückte den Kolben der Maschinenpistole gegen den Bauch. Schon der Rückschlag des ersten Schusses würde ihn umwerfen.
»Ich bin Arzt«, sagte Dr. Corell. Eine fast selige Müdigkeit überkam ihn. Er hatte Sehnsucht nach der Wärme des Feuers, nach der Geborgenheit der Höhle und der armseligen Stille, die Frieden vorgaukelte. Vielleicht wird man später nur noch in Höhlen tief unter der Erde leben müssen, um Frieden zu haben, dachte er. Aber selbst dann wird es Höhlenkriege geben, und die Bewohner der kleineren Höhlen werden den Bewohnern der größeren Höhlen den Mehrbesitz an Platz mißgönnen. Es wird immer so weitergehen … der Mensch wird ständig unterwegs sein, um zu töten oder vor dem Tod davonzurennen. Seit er den ersten steinernen Faustkeil zum Erschlagen herstellte, war es nie anders.
»Ich bin Arzt –«, wiederholte Dr. Corell. »Sehen Sie die Rot-Kreuz-Fahne? Wie war doch Ihr Name?«
»Clara Soffkov.« Die Frau musterte Corell mißtrauisch. »Ich bin Jüdin …«, sagte sie dann. »So, nun schießen Sie …«
»Ich habe als Arzt gelernt, Leben zu retten …«
»Aber Sie tragen eine deutsche Uniform.«
»Und dadurch sind wir Deutsche alle gleich?«
»Ja!«
»Sie hassen uns, nicht wahr?«
»Ich bin die einzige Überlebende meiner Familie. Es gab noch neunzehn Soffkovs … man hat sie innerhalb eines halben Jahres ausgerottet. Soll ich Ihnen um den Hals fallen, nur weil Sie sagen: Ich bin Arzt?« Clara Soffkov gab den Eingang zur Höhle frei, aber der Junge mit Corells Maschinenpistole kauerte noch immer auf der Erde und zielte auf seinen Bauch. »Es waren Ärzte – wie Sie – die meine Ehern und meine Schwester durch Versuche mit Unterkühlung und Behandlung von Gasbrand in einem KZ umbrachten. Ich habe es über Freunde erfahren. Meine Mutter war neunundsiebzig, mein Vater zweiundachtzig Jahre alt. Meine Schwester hatte vier Kinder … von den Kindern hat keiner mehr etwas gehört, nachdem SS-Leute sie auf einen Lastwagen geworfen haben. Und Sie fragen mich, ob ich die Deutschen hasse –«
»Das alles weiß ich nicht.« Dr. Corell knöpfte die Felljacke auf; es war ihm, als müsse er platzen. »Ich bin ein junger Arzt. Abitur, Studium, Militär, erster Einsatz in einem Lazarett in Italien, zweiter Einsatz jetzt hier. Glauben Sie mir, die wenigsten Deutschen wissen, was da alles passiert …«
»Ich glaube Ihnen nicht! Mann kann so einen Massenmord nicht hinter verschlossenen Türen und verhängten Fenstern
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