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Ein Sommer und ein Tag

Ein Sommer und ein Tag

Titel: Ein Sommer und ein Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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erblassen. Ich sehe es förmlich vor mir, auch wenn ich es mir nicht vorstellen kann, dass es wirklich so war. Ja, in dieses Leben würde ich gern zurückkehren.
    Erinnere dich, verdammt noch mal!
    Ich drücke den Pause-Knopf und fege versehentlich ein paar Fotos von meinem Nachttisch. Rory hat die Bilder zusammen mit den DVDs dagelassen. Ich, auf der Schwelle zum Erwachsensein, sie, auf der Schwelle zur Pubertät. 1994, besagt der Datumsstempel, und obwohl sie auf den Bildern erst elf ist und ich schon sechzehn bin, hat sie mich von der Größe her schon fast eingeholt. Ich trage ein grottenhässliches, übertrieben gerüschtes Abschlussballkleid und sie ein violettes Sommerkleid, mit Faltenbesatz auf der Brust, durch den sich ihre knospenden Brustwarzen abzeichnen. Sie war schon mit elf Jahren atemberaubend – neben ihr bleibt keine Schönheit mehr für mich, und unwillkürlich zieht sie alle Blicke auf sich und damit von mir ab. Sie ist die Hauptperson im Bild. Ich trage ein rotweiß gepunktetes Rüschenetwas mit einem Rock aus drei Lagen Taft und einem Bustier, in dem meine Brüste irgendwie schief aussehen. Dank einer festen Zahnspange oben und unten reflektiert mein Lächeln den Blitz der Kamera, und auch meine Haare – eindeutig Opfer von Dauerwellen und einer Überdosis Blondierungsspray – tun meinem herzförmigen Gesicht keinen Gefallen. Ich trage ein Blumensträußchen am Handgelenk, und in der äußersten Bildecke lässt sich die Schulter eines Jungen im Smoking erahnen, der wohl mein Date gewesen sein muss.
    Mein Lächeln sieht bei näherer Betrachtung eher schmerzverzerrt aus. Ich starre mein altes Ich an und frage mich, wer ich mit sechzehn war. Und wer dieser Junge war. Ob an jenem Abend die Fensterscheiben des Kombis seiner Mutter beschlugen und ob wir uns auf der Party nach dem Ball mit Weinschorle betrunken haben. Nein. Sicher nicht. Angefangen bei Samantha bis hin zu Rory hat mir bis jetzt jeder unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich schon immer prüde und zugeknöpft war.
    Ich halte inne und schreibe die Szene in meiner Vorstellung um: Ich war nicht zur Sperrstunde zu Hause, ich habe meinen BH aufgehakt und mich von ihm befummeln lassen, und dann sind wir nach einer Weinschorle zu viel zum Nacktbaden gegangen, und ich musste nachts durchs Schlafzimmerfenster einsteigen, um meine Mutter nicht zu wecken.
    Meine Nase fängt an zu jucken, meine Wangen verziehen sich, mein Brustkorb wird eng, und ganz plötzlich und zum allerersten Mal, seit ich wieder bei Bewusstsein bin, trifft mich mein Verlust mit voller Wucht. Ich fühle mich wie in Stücke gerissen. Tödlich verwundet, ohne Hoffnung auf Wiederbelebung. Überwältigt von der Einsamkeit, die das Leben als bloßes Skelett mit sich bringt – ohne Fleisch, ohne Muskeln, ohne irgendwas, um die Leerstellen zu füllen. Eine gewaltige Flut von Tränen überrollt mich. Mit der gesunden Hand versuche ich, ihnen Einhalt zu gebieten. Ein völlig sinnloses Unterfangen. Kurz kommen mir die 152 Menschen in den Sinn, die noch nicht mal diese Möglichkeit hatten: Himmel! Wach auf! Du bist wenigstens noch am Leben, atmest, bist hier, hast die Chance, dich wieder zu erinnern! Doch mein Hirn hat keine Kapazität frei, um das enorme Ausmaß dieser Tode zu fassen, also macht es keinen Sinn. Der Zeitpunkt, das zu würdigen, wird sicher kommen, aber nicht jetzt. Irgendwann vielleicht. Vielleicht rufe ich eines Tages Anderson an, und wir finden gemeinsam eine Antwort auf die Frage: Warum wir? Doch jetzt geht es nur um meinen eigenen Schmerz, ausgedehnt und hohl zugleich. Auf der hilflosen Suche nach Trost greife ich nach dem iPod, so wie ein kleines Kind sich seinen Schnuller in den Mund steckt. Doch die Musik macht es noch schlimmer – bohrt sich in meine Wunden, durchdringt mich von allen Seiten.
    Alicia muss mich gehört haben, denn plötzlich ist sie da, wischt mir mit einem Taschentuch die Tränen von den Wangen und hilft mir beim Naseputzen.
    «Kann ich dir irgendwie helfen, Süße?», fragt sie mich sanft.
    «Nein», schluchze ich. «Mir kann keiner helfen.»
    Sie nimmt die Fernbedienung, schaltet den DVD-Spieler aus, und auf dem Bildschirm erscheint wieder der Nachrichtensender.
    Dann streichelt sie mir so lange über den Rücken, bis ich aufgehört habe zu weinen, und plötzlich fällt mir doch etwas ein.
    «Kannst du bitte meine Schwester anrufen?»
    «Natürlich, meine Liebe.» Sie greift zum Hörer, wählt und klemmt mir den Hörer zwischen

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