Ein Sommer und ein Tag
mit Jamie Reardons Berichten im Kabelfernsehen und damit, sechzehn Stunden pro Tag zu schlafen. Und hierin.» Ich halte den iPod hoch, der auf meinem Schoß liegt. «Eine umfassende Auswahl an Hits der vergangenen zwei Jahrzehnte. In diesen Themen bin ich absolut sattelfest.»
«Sie wollen damit also sagen, Sie entwickeln sich zur Expertin der Popkultur, damit Sie vor Langeweile den Verstand verlieren.»
«Kurz gesagt, ja.» Ich lache.
«Dann wollen Sie nur mit mir sprechen, weil Sie gerade nichts Besseres zu tun haben?»
Er ist gut, das merke ich. Obwohl er nur Lokalreporter ist. Er wirkt ausgeglichen, beruhigend, gewollt angenehm. Es ist, als würden wir uns schon Jahre kennen.
«Nein. Nicht nur.» Ich denke nach. «Ich weiß nicht, das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber nichts von dem, was ich bis jetzt über mich erfahren habe, stößt in mir auf Resonanz … es fühlt sich nicht richtig an.» Ich versuche, es noch besser auszudrücken. «Hatten Sie je das Gefühl, festgefahren zu sein, ohne dass Sie überhaupt gemerkt haben, dass Sie sich in festen Bahnen bewegen?»
Plötzlich fühle ich mich befangen, als wäre ich in einer Fernsehshow, in der sich alles nur um sich selbst dreht, ohne zu verstehen, worum es eigentlich geht. «Das klingt bestimmt lächerlich.» Ich muss schlucken. «Aber nach allem, was ich durchgemacht habe, spüre ich einfach, dass ich die Dinge aufrütteln und etwas Neues ausprobieren muss. Genau das sollte mein neues Ich doch tun, oder nicht? Etwas ausprobieren, das mein altes Ich niemals getan hätte.»
«Also ich finde, das klingt überhaupt nicht lächerlich», sagt er und sieht mich dabei so offen an, dass ich ihm glaube. Er ist zwar Profi, aber ich nehme es ihm trotzdem ab. «Welche Gründe auch immer Sie haben mögen» – er räuspert sich –, «ich versichere Ihnen, dass ich mich Ihnen zutiefst zu Dank verpflichtet fühle.»
«Dafür dass ich aus dreißigtausend Fuß Flughöhe abgestürzt bin und überlebt habe?»
«Nein!» – Er schüttelt den Kopf – «Dafür dass Sie mit mir sprechen.» Er legt den Kopf schief wie ein Gockel und beäugt mich. «Für das, was Sie durchgemacht haben, wirken Sie ganz schön lässig.»
«Das wäre mit Sicherheit anders, wenn ich mich an alles erinnern könnte. Ich wäre bestimmt zutiefst traumatisiert und bräuchte für den Rest meines Lebens Therapie.» Ich muss an Anderson denken, der mir erzählt hat, dass er trotz Schlafmittel jede Nacht schweißgebadet aus einem Albtraum aufwacht. «Wobei», korrigiere ich mich, «das werde ich vielleicht trotzdem brauchen.»
«Und ich muss Ihnen trotzdem danken. Diese Geschichte – also Sie, im Grunde – verändert auch mein Leben. Seit ich achtzehn geworden bin, versuche ich, aus Iowa rauszukommen. Und jetzt ist es vielleicht so weit.»
«Dann bin ich für Sie also nur das Karrieresprungbrett?»
Seine Augen weiten sich sichtlich, und er richtet sich auf.
«Das war ein Witz, Jamie. Ich habe einen Witz gemacht.» Wer ist er? Wieso kommt er mir so vertraut vor? Wieso benehme ich mich, als würden wir uns schon unser ganzes Leben lang kennen?
«Sie sind vollkommen anders, als ich Sie mir vorgestellt habe», sagt er. «Vor allem nach dem, was ich über Sie recherchiert habe.»
Na also! Endlich einer, der checkt, was ich meine! , denke ich, aber stattdessen frage ich: «Was haben Sie denn recherchiert? Sie wissen wahrscheinlich viel mehr über mich als ich selbst.»
«Eleanor Slattery. Zweiunddreißig. Benannt nach dem Beatles-Song ‹Eleanor Rigby› , genannt Nell. Aufgewachsen in Bedford, New York. Fünf Jahre ältere Schwester von Rory Slattery. Tochter von Francis Slattery, einem der Genies der Pop-Art-Bewegung der sechziger Jahre. Freund von Andy Warhol. Lebt absolut zurückgezogen. Seit Jahren hat niemand mehr von ihm gehört.»
«Ich dachte, mein Vater wäre tot!» Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.
«Tot?» Er lacht, ohne die Bedeutung des Augenblicks für mich zu erfassen. «Nein, nicht dass ich wüsste. Ganz im Gegenteil, quicklebendig.»
Ich schlucke. Das muss ich erst mal verdauen. Meine Mutter hat doch gesagt, wir hätten ihn verloren, er sei gegangen. Vielleicht habe ich sie missverstanden. Ja, vielleicht meinte sie einfach nur gegangen – verschwunden. Und ich hatte gegangen – gestorben verstanden. Ich kaue an den Nägeln meiner gesunden Hand herum, der Hand mit der Narbe.
«Weiter.»
«Nun, ob verschwunden oder nicht, er war brillant. Ist es vielleicht immer noch.
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