Ein Spiel um Macht und Liebe
dachte sie im Rückblick nun, daß sie vermutlich nur nicht hatte glauben wollen, daß Nicholas so ein gemeiner Schuft war. Jetzt würde sie die beiden also zusammen sehen und dadurch wahrscheinlich die Wahrheit erfahren. Und sie mußte sich eingestehen, daß sie gar nicht wissen wollte, was damals tatsächlich geschehen war.
Als der würdevolle Butler die Gäste hereinließ und sie nach dem Namen fragte, stürmte ein nacktes Kleinkind durch die Eingangshalle, was der Förmlichkeit des Empfangs einigen Abbruch tat.
Ein keuchendes Kindermädchen war dem Balg dicht auf den Fersen, und ein paar Sekunden später erschien auch eine lachende Lady, die etwa Mitte Dreißig zu sein schien.
Ihr Blick wanderte zu den Gästen, und ihre Miene veränderte sich. »Nicholas!« rief sie und streckte ihm die Hände entgegen. »Warum hast du mich nicht benachrichtigt, daß du wieder in England bist?«
Er nahm ihre Hände und küßte sie auf beide Wangen. »Ich bin erst gestern in London angekommen, Emily.«
Clare sah der Begrüßung mit regloser Miene und eisigem Schweigen zu. Für ihren Geschmack hatte Nicholas heute schon entschieden zu viele Frauen geküßt. Die Witwe des alten Earls strahlte vor Gesundheit und Glück und sah gute zehn Jahre jünger aus als damals, als sie noch auf Aberdare gelebt hatte. Und wenn man die Zuneigung sah, die die beiden offenbar füreinander empfanden, konnte man sich leicht vorstellen, daß sie einmal Liebende waren.
Nicholas wandte sich um und zog Clare vorwärts.
»Kennst du vielleicht meine Begleitung hier noch?«
Die Countess stutzte, sagte aber schließlich: »Sie sind Miss Morgan, die Lehrerin aus Penreith, nicht wahr? Wir lernten uns kennen, als Nicholas die Stiftung, für die Schule ins Leben rief.«
Nun war Clare an der Reihe, verdattert zu sein.
»Nicholas? Ich dachte, die Schule sei Ihr Projekt gewesen!«
»Da mein Gemahl dazu neigte, jede
fortschrittliche Idee von Nicholas zu mißbilligen, hielten wir es für besser, wenn ich damit an die Öffentlichkeit trat«, erklärte die Countess. »Ich hoffe, die Schule macht sich gut. Sind Sie immer noch Lehrerin dort?«
»Meistens schon«, warf Nicholas ein. »Sie hat sich gerade drei Monate freigenommen, um zu versuchen, mich zu erziehen.«
Die Countess sah neugierig von ihm zu Clare und zu Nicholas zurück, doch bevor sie etwas dazu sagen konnte, kam das junge Kindermädchen mit dem fröhlich gurgelnden Nackedei auf dem Arm zurück. »Es tut mir leid, Ma’am«, sagte sie. »Ich habe keine Ahnung, wie Master Williams sich einfach so davonstehlen konnte.«
Die Countess beugte sich vor und küßte ihren Sohn auf die Wange. »Unglaublich einfallsreich, nicht wahr?« sagte sie stolz.
»Fallreich, fallreich!« krähte das Kind.
»Also ist das mein Patenkind.« Lachend nahm Nicholas dem Mädchen den Jungen aus dem Arm.
»Bei seiner Abneigung gegen Kleidung wird er in den nächsten Jahren recht preiswert einzukleiden sein. Vielleicht steckt in ihm ein wenig von der Freiheitsliebe der Zigeuner.«
Clare konnte nicht anders: Sie mußte immer wieder nach Ähnlichkeiten zwischen dem Kind und Nicholas suchen. Aber wenn es eine gab, so konnte sie sie nicht entdecken. Das Kind war blond und blauäugig – ein echter englischer Junge. Außerdem war er zu klein, um das Produkt einer Liaison zu sein, die vor vier Jahren stattgefunden hatte.
Die helle Stimme der Countess unterbrach ihre Gedanken. »Verzeihen Sie mir meine
Unhöflichkeit, Miss Morgan. Wie Sie sehen, geht hier mal wieder alles drunter und drüber, aber hätten Sie Lust, zum Tee zu bleiben? Nicholas und ich haben uns viel zu erzählen.«
Nicholas lachte in sich hinein und reichte William dem Kindermädchen zurück. »Ich sehe schon, was du in den letzten Jahren getan hast!«
Die Countess errötete wie ein Schulmädchen, als sie ihre Gäste in das Wohnzimmer geleitete und nach Erfrischungen klingelte. Clare nippte an der Teetasse und knabberte an kleinen Kuchen, während die anderen beiden Neuigkeiten austauschten. War sie dazu nach London gekommen? Um zuzusehen, wie Nicholas Frauen bezauberte? Der Gedanke machte sie
ausgesprochen übellaunig.
Nach einer halben Stunde zog Nicholas ein leuchtend bemaltes, rundes hölzernes Objekt aus seiner Tasche. »Ich habe ein kleines Geschenk für William mitgebracht. Es kommt von den Ostindischen Inseln, wo man es Jo-Jo nennt.« Er schlang den Seidenfaden um seinen Finger und ließ das Spielzeug den Faden auf und ab laufen, wobei es ein
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