Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
mehr als die Hälfte des Wassers aus dem Krug. Auf keinen Fall darf er sterben, beschwor sie sich, denn dann wäre sie gegenüber ihren Gastgebern und dem Friedensrichter zu Erklärungen gezwungen, auf die sie nicht vorbereitet war. Und außerdem brauchte sie ihn für ihren Ball! Und überhaupt ist das der einzige Grund, weshalb ich ihn so gewissenhaft pflege, redete sie sich ein. Wirklich der einzige.
Phillippa war durchaus geübt darin, die Wahrheit ein wenig zurechtzurücken, wenn die gesellschaftlichen Erfordernisse es nötig machten. Aber wenn sie sich mit Marcus allein in einem Zimmer aufhielt, sackten die Lügen, die sie sich selbst auftischte, in sich zusammen.
Irgendetwas hatte sich verändert. Das Wann und Wo konnte sie nicht genau bestimmen, aber irgendwann war der Punkt gekommen, an dem sie tiefe Zuneigung für Marcus Worth empfunden hatte. Für den unscheinbaren Marcus Worth!
Es lag an dem Doppelleben, das er führte. Er, der berühmte Blue Raven und seine Heldentaten und sein Können. Es lag an der Gefahr, die um jede Ecke lugte. Obwohl Phillippa sich durchaus eingestehen musste, dass es mit dieser Gefahr, jetzt da sie an ihr teilgehabt hatte, auch nicht allzu weit her war. Dennoch war sie überzeugt, dass sie sich nur wegen der Aura des Geheimnisvollen zu ihm hingezogen fühlte und dass es diese Aura war, die seine – durchaus akzeptable – Erscheinung so ungemein attraktiv machte. Nicht etwa seine Freundlichkeit oder Liebenswürdigkeit. Nicht sein Humor oder sein Glaube an ihre Fähigkeiten. Ja, das alles war zwar in Ordnung, würde einer Phillippa Benning aber niemals ausreichen, sich nach einer Alltagserscheinung wie ihm den Hals zu verdrehen. Nach einem, nun ja, Durchschnittsmenschen.
Aber als Blue Raven würde Marcus Worth niemals durchschnittlich sein.
Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach ihre Grübelei. Phillippa überzeugte sich, dass Marcus ruhig auf dem Bett lag, ging zur Tür und ließ Lady Jane ein.
»Ich habe ein Kleid … «, fing Lady Jane an, aber Phillippa legte sich den Finger auf die Lippen und zeigte auf den schlafenden Marcus. Lady Jane sprach weiter, aber leiser.
»Es ist mir auch gelungen, ein bisschen Wundsalbe zu bekommen. Ich habe mir den Arm zerkratzt«, schloss Jane, reichte Phillippa eine kleine Dose und zeigte auf den langen, dünnen roten Kratzer auf ihrem Arm.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Phillippa.
»Einfach mit dem Fingernagel. Ich habe eine sehr empfindliche Haut. Weißt du doch.«
»Ja«, bemerkte Phillippa, »sommersprossige Rothaarige wie du sind geradezu gestraft mit ihrer empfindlichen Haut. Aber, Jane«, fuhr sie fort, bevor Jane zurückgiften konnte, »das hättest du wirklich nicht tun müssen.«
»Oh, das habe ich auch gar nicht«, Jane lächelte boshaft, »ich habe meiner Zofe erzählt, du wärest es gewesen. In einem Anfall von Eifersucht.«
Phillippa durchbohrte Jane mit ihrem Blick, während sie den Tiegel auf die Kommode stellte und das Kleid auf einem Stuhl ablegte. Unter dem Kleid lag ein kleiner Haufen Leinenstreifen, der nicht mehr benötigt wurde, aber bewies, welche Mengen Jane zuvor hereingebracht hatte.
»Noch mehr Leinen?«, fragte sie.
»Oh, die sind nicht für ihn. Sondern für dich.«
»Für mich?«
»Um dich oben herum auszustopfen. In diesem Bereich bist du schon immer schlechter ausgestattet gewesen als alle anderen.«
Phillippa lächelte wehmütig. »Du gönnst dir deinen Spaß, nicht wahr?«
»Nur ein bisschen«, erwiderte Jane und fragte mit einem Blick auf das Bett: »Wird er wieder gesund?«
Phillippa folgte ihrem Blick, sah, dass Marcus die Decken zurückgeworfen hatte, sodass sein langer, geschmeidiger Rücken den Blicken ausgesetzt war. Sie ging zum Bett und deckte ihn wieder zu. »Ich denke schon. Ich hoffe es. Mit solchen Dingen kenne ich mich nicht besonders gut aus.«
»Das solltest du auch nicht«, gab Jane zurück. »Wer von uns weiß schon, wie man eine Schussverletzung zu behandeln hat?«
»Er weiß es«, Phillippa schaute auf den schlafenden Marcus. »Er hat mir gesagt, was ich machen muss.«
Phillippa strich ihm sanft über das braune Haar und schob ihm eine Locke aus der fiebrigen Stirn. Sie musste sich in ihrem Blick auf ihn verloren haben, denn Lady Jane räusperte sich, um ihre Aufmerksamkeit wieder zu erringen.
»Nun, ich sollte mich zu Bett begeben. Das Fest war irgendwie verdorben, nachdem die Ställe gelöscht waren.«
»Oh! Das Feuer in den Ställen! Ist jemand verletzt
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