Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
nach dem Treppengeländer zu greifen. Er wusste, dass alle Augen auf ihm ruhten, ebenso wie er wusste, dass er perfekt sein musste. Er hörte, wie Hampshire weiterstritt und behauptete, dass er schon herausfinden würde, wer das getan habe; und wenn es tatsächlich die Franzosen gewesen seien, würde er all seinen Einfluss im Oberhaus geltend machen, um sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Lord Sterling sagte nichts; aber Marcus spürte, wie der durchdringende Blick des Mannes sich ihm in den Nacken bohrte.
Er versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren, spürte deren Bedeutsamkeit, wusste, dass es sich um weitere Puzzleteilchen handelte, die an ihren Platz fielen. Und falls er recht behalten sollte – war es wirklich so einfach?
Aber solche Überlegungen mussten warten. Hampshires Stimme verklang, als Marcus durch die Tür des Anwesens in die kühle, frische Morgenluft hinaustrat. Mit größtmöglicher Eleganz stieg er in die Kutsche, die genau vor der Tür wartete, und sank erschöpft auf den Sitz. Und als die Hufe der Pferde über den Kiesweg trappelten, schloss die wonnige Dunkelheit ihn wieder in ihre Arme.
Die nächsten Tage verliefen wie unter einer Nebelglocke. Marcus und Byrne begaben sich in Marcus’ Junggesellenquartier; gewissenhaft ignorierten sie Grahams und Mariahs (im Grunde genommen nur Mariahs) Einladungen ins Haus Worth, die beinahe stündlich eintrafen. Schließlich gelang es Byrne, sie mit einem Dinner zufriedenzustellen, und einer schriftlichen Entschuldigung Marcus’, in der es hieß, dass er bereits eine andere Einladung habe. Ob Mariah es nun so interpretierte oder auch nicht, dass es sich dabei um eine Einladung von Mrs. Benning handelte – ganz und gar nicht so insgeheim hegte sie die Hoffnung, diese Lady könnte das Glück ihres Schwagers sein –, jedenfalls ließ sie nicht locker. Aber immerhin stellte sie ihre ständigen Bitten um Marcus’ Gesellschaft ein.
Marcus erging es an seinem Zufluchtsort derweil nicht sehr gut. Der Arzt, ein zurückhaltender Mann, den sie bei dem Versuch kennengelernt hatten, den Soldaten des Siebzehnten Regiments Gliedmaßen und Leben zu retten, hatte den Verband entfernt, legte einen Schwarzpulverwickel auf und verordnete Bettruhe. Aber sobald das Fieber begann, in Schüttelfrost überzugehen, wollte Marcus nichts mehr vom Ausruhen wissen. Die Bettwäsche kratzte auf seiner Haut. Seine Schulter schmerzte. Er zwang sich, so lange wie möglich wach zu bleiben, was ihm in den ersten Tagen allerdings immer nur für ein paar Stunden gelang.
Aber er war entschlossen, diese wenigen Stunden zu nutzen.
Abends verließ Byrne das Haus. Marcus wusste nicht, wohin sein Bruder ging, und Byrne zog es offenbar auch vor, sich ihm nicht anzuvertrauen. Es konnte sein, dass er irgendwelche Spuren verfolgte, am Hafen Laurent nachjagte und sich vielleicht an dessen Fersen geheftet hatte.
Es konnte aber auch sein, dass er trank. Oder Schlimmeres tat, um den Schmerz in seinem Bein zu betäuben, den Schmerz seiner Existenz.
Marcus hatte keine Ahnung, ob die Tatsache, dass er angeschossen worden war, seinen Bruder so erschüttert hatte, dass er zur Vernunft gekommen war, oder ob er ihn noch weiter in den Abgrund getrieben hatte. Als Byrne fast eine Woche nach der Schießerei eines Morgens nach Hause kam, legte der üble Geruch, der von ihm ausging, eher Letzteres nahe.
Er musste überrascht gewesen sein, Marcus im Arbeitszimmer sitzen zu sehen, am Schreibtisch und Papiere sortierend; aber er verlor darüber kein Wort.
Marcus schaute auf, als Byrne eintrat und einen Einkaufskorb unter dem Arm trug.
»Frühstück«, brummte er und stellte den Korb auf den Tisch. Darin befanden sich Orangen, Käse, kaltes Fleisch und Brot. Eine Flasche Milch. Da es in Marcus’ Junggesellenquartier weder eine Köchin noch eine Küche gab, stibitzte er sich seine Nahrungsmittel wie viele andere Junggesellen auch meistens aus dem Klub oder aus Mariahs und Grahams Küche. Aber er verfügte über einen Küchenschrank mit den wichtigsten Vorräten. Unglücklicherweise war dieser Vorratsschrank nach der fünftägigen Bettruhe ziemlich leer.
»Danke«, erwiderte Marcus und riss sich ein Stück Brot ab, »woher hast du die Sachen?«
»Am Covent Garden ist Markttag«, sagte Byrne. »Du solltest übrigens im Bett bleiben.«
»Es ist Arbeit zu erledigen«, gab Marcus zurück.
»Nicht für dich.« Byrne humpelte zu seinem Stuhl hinüber. »Ich bin draußen gewesen und habe mich nach ihm
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