Ein Sturer Hund
ein gelungenes Leben zurückblicken und hätte dies auch gerne weiterhin getan. Alles, was er angepackt hatte, war, wenn schon nicht hervorragend, dann doch zufriedenstellend verlaufen. Er war erfolgreich in seinem Beruf, und zweifelsohne wäre ihm eine bedeutende Karriere bevorgestanden. Genau darum bereute er nun schwer, was geschehen war. Er sehnte sich nach der Geradlinigkeit, die noch einen Tag zuvor sein Leben bestimmt hatte. Am schwersten wog dabei das Gefühl, sich selbst ins Unrecht gesetzt zu haben, indem er abseits seiner Kompetenzen gehandelt und sich auf ein diffuses Gefühl moralischer Verantwortung berufen hatte. Er war aus der Geborgenheit seiner warmen, gemütlichen Vierzimmerwohnung, aus der Ordnung eines ehelichen Fernsehabends ausgebrochen, um sich das Schicksal irgendeines dahergelaufenen österreichisch-chinesischen Privatschnüfflers zu eigen zu machen. Im Grunde eigentlich bloß – wie sich Dr. Thiel jetzt eingestand –, weil er seit einiger Zeit an Schlafstörungen litt. Ja, er hatte das Haus verlassen, um sich müde zu laufen, um sich in der kalten Winterluft zu verausgaben. Daß er dann aber in seinen Wagen gestiegen und zu Chengs Büro gefahren war, und damit in die Verlegenheit geraten war, eine unautorisierte, ja unerwünschte Lebensrettung vorzunehmen, konnte er im nachhinein nur noch als schwachsinnig bezeichnen. Und wie um alles schlimmer zu machen, war er nicht einmal in der Lage gewesen, auf sich selbst aufzupassen. Nein, er hatte sich zu allem Überfluß auch noch retten lassen müssen.
Man hätte natürlich meinen können, daß Dr. Thiel und der ihm so unangenehme Markus Cheng nun quitt waren. Aber das stimmte nicht. Die gegenseitige Lebensrettung hatte auf fatale Weise überhaupt erst ihre Beziehung begründet. Sie waren aneinandergekettet wie Zwillinge, die sich verabscheuten, aber über das Eineiige ihres Wesens nicht hinauszufinden vermochten. Wobei man genaugenommen von Drillingen sprechen mußte, denn mit Moritz Mortensen war ja der eigentlich Schuldige dazugestoßen. – Einen Moment schloß Dr. Thiel die Augen, als wollte er sich und seinen Wagen in den nächsten Baum krachen lassen. Aber er besann sich. Einen solchen Wagen absichtsvoll zu Schrott zu fahren gehörte sich nicht. Er riß die Augen auf, packte wieder das für einen Moment losgelassene Lenkrad, bremste und sagte: »Also gut.«
Cheng und Mortensen zeigten keine Reaktion. Sie träumten dahin, während es draußen kälter statt wärmer wurde. Ein Minusgrad war hinzugekommen. Und heller wurde es auch nicht. Das Licht schien wie geraubt. Selbst im Zentrum der Stadt hielt sich der Schnee als eine weiße Decke. Nur ganz vereinzelt wurden erste Flecken sichtbar. Anzeichen einer Krankheit, die unweigerlich alles und jeden befallen würde. Noch aber bewegte man sich durch ein urbanes Wintermärchen.
Natürlich wäre es unsinnig gewesen, vielleicht sogar riskant, Stunden vor Rosenblüts Auftritt zum Fernsehturm zu gehen, weshalb Dr. Thiel die Fahrt auf halber Strecke unterbrach, den Wagen oberhalb des Charlottenplatzes parkte und vorschlug, ein kleines Restaurant aufzusuchen. Cheng und Mortensen willigten ein.
Allerdings war der Detektiv wenig begeistert, als er feststellen mußte, daß es sich bei Cravans Blume um eine chinesische Imbißstube handelte, eine kleine, schmucklose, in keiner Weise blumenhafte Kneipe, in der kein einziger Tisch oder Sessel stand. Stattdessen saßen die Gäste auf Barhockern um einen Tresen herum, der in seiner Form jenem in Tilanders Bar entsprach, allerdings jeglichen Schick vermissen ließ. Es war ein schäbiger Raum. Schäbig, aber sauber. Man hätte vom Boden essen können. Die mit einem gelblichgrünen Anstrich versehenen Wände glänzten wie feuchte Seife. Von der Decke hing ein Ventilator, aus dessen Mittelteil eine kugelige Lampe herausstand. Das Flügelrad rotierte mit mäßiger Geschwindigkeit, wodurch einerseits die Wärme samt Gerüchen abwärts gewirbelt wurde und sich andererseits die Beleuchtung des Raumes in ständiger Unruhe befand. Cravans Blume besaß das nüchterne Flair einer Likörstube. Wie früher, als es noch nicht üblich gewesen war, um das Trinken von Alkohol herum Einrichtungswelten zu errichten.
Cheng besuchte niemals asiatische Restaurants. Er befürchtete Mißverständnisse. Etwa in einer Sprache angeredet zu werden, die er nicht verstand. Er war in Wien geboren und aufgewachsen, konnte kaum ein Wort Chinesisch. Auch scheute er sich zu erklären,
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