Ein Sturer Hund
Kundschaft denken über den Tod hinaus? Cheng tat es. Bei dem einen handelte es sich um jenen Mann, dem er seine Freimaureruhr verdankte. Und dem er sich auf eine unsagbare Weise verpflichtet fühlte. Der andere Kunde, für den Cheng nun die vierte Kerze in Brand setzte, war jener Mann gewesen, dessen Auftrag Cheng seinen Arm gekostet hatte. Den Kunden allerdings gleich das ganze Leben, weshalb Cheng seinen verlustig gegangenen Arm als ein vergleichsweise erträgliches Pars-pro-toto-Opfer interpretierte. Den Teil für das Ganze.
In Erinnerung an die alten Geschichten spürte Cheng die Schraube, die in seinem Arm steckte. In seinem präsenten Arm, versteht sich. Cheng bemerkte diesen Metallstift so gut wie nie. Nur dann, wenn er an die Toten dachte. Gott hab sie alle selig.
Jemand war eingetreten. Cheng hörte eine kurze Folge von Schritten, dann das Knarren einer der hölzernen Bänke. Es war ihm unangenehm, nicht mehr alleine zu sein. Er hätte sich noch gern eine Weile mit seinem Vater unterhalten. Ja, er sprach hin und wieder mit dem einen oder anderen Toten. Nicht, daß er Stimmen hörte. Es war einfach so, daß er sich vorstellte, was dieser oder jener gesagt hätte, wäre er dazu noch imstande gewesen. Wofür es freilich einer Konzentration bedurfte, die nun nicht mehr aufzubringen war. Das Gesicht des Verstorbenen, das sich Cheng über dem Schein der zugeeigneten Opferkerze gedacht hatte, verblaßte und verpuffte.
Cheng drehte sich um. In einer der hinteren Reihen, zum Mittelgang hin, saß jemand. Er erkannte das dunkelblonde Haar. Doch noch bevor er seine Wahrnehmung steigern konnte, hatte sich die Gestalt erhoben und war mit zügigen Schritten aus der Kirche getreten.
»Warten Sie, Herrgott noch mal, warten Sie!« rief Cheng hinterher, überzeugt, es handle sich um Moira Balcon. Sein Ruf pflanzte sich dank der akustischen Verhältnisse rasch fort und entwickelte eine scheinbare Mehrstimmigkeit. Was nichts nutzte. Die Glastür fiel zu, dann auch das äußere Portal, und schon war Cheng wieder mit sich allein. Er unterließ es, hinter der Frau herzulaufen. Daß eine Agentin des britischen Geheimdienstes ihn an Schnelligkeit übertraf, konnte er sich denken. Er warf noch einen Blick auf die Opferkerzen, schritt dann vorbei am Altar, unter dem Christus hindurch und über den Mittelgang auf das Tor zu. Die Reibung seiner Schuhe auf dem steinernen Boden erzeugte einen quietschenden Ton. Cheng hörte sich beim Gehen zu. Wann tut man das schon?
Als Cheng den kleinen Vorraum zwischen Glastür und Portal erreicht hatte, dessen Boden mit einer Schicht hereingewehten Schnees bedeckt war, fiel sein Blick auf den obligaten Schriftenstand. Zunächst einmal deshalb, weil deutliche Fußspuren auf dieses Objekt zu- und wieder wegführten. Und dann, weil Cheng zwischen den Broschüren und Postkarten und Traktaten etwas erkannte, das er gewissermaßen selbst war: Er blickte auf sein Porträt.
Er ging darauf zu, faßte aber nicht gleich danach, sondern griff sich unwillkürlich auf seinen Hintern. Er sah, daß die Porträtzeichnung auf jener Polaroidfotografie skizziert worden war, von der er angenommen hatte, sie befände sich zwischen seinem Po und seiner Hose. Allerdings fiel ihm nun ein, das Foto vor dem Schlafengehen aus der Hose genommen und auf einem Bord neben dem Bett abgelegt zu haben. Am Morgen jedoch war er viel zu verwirrt gewesen, um daran zu denken, das Polaroid erneut zu verstauen. Freilich konnte es zu diesem Zeitpunkt kaum noch dagewesen sein. Cheng war nun immer mehr davon überzeugt, daß Moira Balcon tatsächlich in die Wiesensteigsche Villa eingedrungen und in das Schlafzimmer geschlichen war, wo sie dann das Foto vom Regal genommen, einen Stuhl an das Bett gerückt und ihn, den schlafenden Cheng, porträtiert hatte. Möglicherweise sogar im Schein einer Nachttischlampe, die Moira erst ausgeschaltet hatte, als Cheng im Begriff gewesen war, zu erwachen.
Jedenfalls zeigte die Zeichnung, die mit einem dicken, schwarzen, an manchen Stellen durchscheinenden Filzschreiber angefertigt worden war, Cheng mit geöffneten Augen. Ja, gerade die Augen waren besonders gut getroffen, besaßen eine hohe Plastizität. Durch geschickte Auslassung entstand ein Glanz, der die Feuchtigkeit dieser Augen betonte. Nässe wie von Tränen. Nicht Tränen der Trauer, sondern der Erschöpfung.
Durch das Zentrum der Augen leuchteten die Gesichter jener beiden jungen Männer hindurch, die auf dem Polaroid abgebildet waren. Denn
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