Ein Sturer Hund
objekthaften Aquarium beherrscht wurde. Objekthaft deshalb, da es auf einem weiß getünchten Podest stand und für eine Privatwohnung eine beträchtliche, beinahe die gesamte Seite einnehmende Länge besaß. Der Inhalt jedoch erwies sich als durchaus konventionell: Fische und Pflanzen eben. Zumindest war auf die Entfernung hin nichts Ungewöhnliches zu erkennen.
Auf jener Breitseite, die Mortensen nicht einsehen konnte, mußte sich die Tür befinden, die einen fensterlosen Vorraum mit dem aquaristischen Zimmer verband. Auf der gegenüberliegenden Seite war ein gläserner Schreibtisch plaziert, der einen von diesen schminkspiegelartigen Laptops beherbergte, sowie ein paar Bücher und eine unpassende, den Raum jedoch um eine kaleidoskopische Wärme bereichernde Gallé-Lampe. Dazu noch ein tragbarer Fernseher. Ansonsten nur noch zwei Stühle, die unbesetzt und tischlos im Raum standen, silberfarbene, scharfkantige Sitzmöbel, die den Charme zusammengeklappter Kampfflugzeuge besaßen.
Hinter dem Schreibtisch zeichnete sich eine zweite Tür ab, die in den vom Flur am weitesten entfernten Raum führte. Nach Mortensens Einschätzung mußte es sich dabei um das Schlafzimmer handeln. Es hatte ebenfalls eine Fensterreihe, auf die er sehen konnte. Jedoch brannte dort kein Licht, und auch durch die offene Türe, auf die Mortensen in einem schrägen Winkel Einblick hatte, war nichts zu erkennen. Natürlich nicht. So nahe an der Wohnung befand er sich nun auch wieder nicht, um mit Hilfe des Lichtscheins, der vom Wohnraum in das wahrscheinliche Schlafzimmer fiel, irgend etwas hätte wahrnehmen können.
Es war eine bloße Mutmaßung, daß sich im Dunkel des zweiten Raums Thomas Marlock und die Frau befanden, um im Rahmen einer finanziellen Abmachung oder auch nur im Rahmen privater Nachtaktivität irgendeine Form von Geschlechtsverkehr zu praktizieren. Eine Vorstellung, die Mortensen kaum erregte. Zudem erfaßte ihn eine Müdigkeit, so heftig, das er nun sachte nach vorne kippte und mit seiner Schulter gegen die Mauerkante stieß. Um nicht vollends den Halt zu verlieren und auf die Scheibe des Fensters zu prallen, versuchte er sich mit der einen Hand abzustützen. Es war jedoch nicht das Fensterbrett, welches er zu fassen bekam, sondern irgendeine Pflanze, an deren Blättern er abrutschte und mit seinem Handballen in die feuchte Erde eines Blumentopfes tauchte. Es war ein ekelhaftes Gefühl, als berühre er etwas Lebendiges. Oder eben nicht mehr Lebendiges. Als stecke seine Hand im Inneren eines noch auszunehmenden Huhns.
»Mein Gott«, dachte Mortensen, »wer nimmt heutzutage noch Hühner aus.« Dabei drängte sich ihm die Erinnerung daran auf, wie er als Kind seiner Mutter dabei zugesehen hatte, wenn sie in den kopflosen Geflügelkörper hineingegriffen und Gedärm und Innereien herausgerissen hatte. Eine Handlung, die er stets mit großer Spannung beobachtet hatte. Denn bei allem Abscheu vor dem, was da an wurm- und schneckenartigem Geschlinge zutage getreten war, hatte er auch immer mit einer Überraschung gerechnet. Mit dem Auftauchen von etwas Unerwartetem, was normalerweise in Hühnern nicht zu finden war: Diamanten, Mikrofilme oder – als sei so ein Huhn eine Art Trojanisches Pferd – Sprengkörper. Und einmal hatte Mortensens Mutter beim Ausweiden eines Huhns dann tatsächlich einen wesensfremden Gegenstand entdeckt: einen menschlichen Milchzahn. Was unheimlicher klingt, als es war. Hühner picken einiges auf, warum nicht auch den Milchzahn irgendeines Kindes. Kein Grund, deshalb gleich ein ganzes Huhn in den Müll zu werfen.
Während Mortensen jetzt seine Hand aus der Erde zog und sie mit einem Taschentuch säuberte, dachte er daran, wie groß sein Unbehagen gewesen war, als er eine Portion dieses Milchzahn-Brathuhns hatte verspeisen müssen. Eine Weigerung war damals für ihn nicht in Frage gekommen, aber noch Wochen später hatte ihn das horrible Gefühl verfolgt, mit diesem Stückchen gebratenen Geflügels einen fremden Menschen in sich aufgenommen zu haben. Eine Vorstellung, die jedoch mit der Zeit vergangen war. Von Trauma konnte also keine Rede sein. Jahre hatte er nicht mehr daran gedacht.
Das sollte sich nun allerdings schlagartig ändern. Denn mit dem Ereignis, das jetzt folgte, würde Mortensen eine ganze Weile lang auch seine Erinnerung an besagtes Huhn und besagten Milchzahn verknüpfen. Ohne daß er glauben konnte, was er da sah. Als er nun sein Gesicht anhob, um wieder hinüber zu dem erleuchteten
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