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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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als Tatverdächtiger verhaftet zu werden. Nicht, daß er eine Ahnung von den Methoden der hiesigen Kriminalpolizei besaß, aber er konnte sich gut vorstellen, daß auch diese Leute mit ihren Möglichkeiten haushalten mußten und einen Verdächtigen nicht so einfach aus der Hand gaben. Kein Mensch, der halbwegs vernünftig dachte, hätte an seiner, Mortensens, Stelle die Polizei gerufen. Und wenn etwas zu tun war, dann bestand dies allein darin, raschestens dieses Haus zu verlassen und dabei niemandem über den Weg zu laufen.
    Ersteres war eine reine Frage des Willens. Mortensen biß sich auf die Lippe, stieß sich von der Wand ab zum nächsten Lichtschalter. Er bemühte sich um einen unspektakulär gleichmäßigen Schritt. Der knirschende Klang der Stufen war nun ein moderaterer. Freilich nicht moderat genug für das geplagte Ohr Mortensens wie auch das jener Bewohner, die noch immer schlaflos in ihren Betten lagen. Aber auch sie würden später kein Wort darüber verlieren. Man hatte Sorgen genug. Es war also nicht nötig, mit dem Finger auf sich selbst zu zeigen und eine lästige Zeugenschaft zu begründen.
    Gerade als Mortensen das Parterre erreicht hatte und nach der Klinke der bloß angelehnten Tür greifen wollte, erkannte er durch das gerippte Glas hindurch die Umrisse einer Gestalt. Automatisch griff er sich an den Kopf, wie um ein wegbrechendes Rad zu stützen. Noch bevor er den Rückzug antreten konnte, glitt die Tür nach innen, und Mortensen stand einer jungen Frau gegenüber. Gut möglich, daß die Jungs ihretwegen die Tür unversperrt gelassen hatten. Eine ältere Schwester vielleicht. Zwanzigjährig. Daß sie alleine war, erstaunte Mortensen. Denn sie trug ein Kopftuch. Kopftuch und allein, und zwar um ein Uhr in der Nacht, das brachte Mortensen nicht zusammen.
    »Was is’enn?« fragte sie mit einer Stimme wie aus feinen Nadeln.
    »Was soll sein?« gab er zurück.
    »Willst du raus oder bleibst du da stehen?«
    Tatsächlich hatte er sich in dem schmalen Flur so aufgestellt, daß es der Frau unmöglich gewesen wäre, an ihm vorbeizukommen, ohne ihn zu berühren. Und daß sie kein Bedürfnis hatte, ihn wie einen Gegenspieler zur Seite zu drängen, sah er ein. Weshalb er sich jetzt beeilte, nach draußen zu kommen.
    »Na, siehst du. Geht doch«, sagte sie. Ihr Lächeln war ohne jeden Spott, als sie ihm eine gute Nacht wünschte, ins Haus trat und die Tür versperrte.
    »Nettes Mädchen«, dachte er. Und dachte daran, daß dieses »nette Mädchen« in der Lage sein würde, ihn bestens zu beschreiben. Nicht bloß, weil sie ihn im Licht des Flurs recht gut hatte sehen können. Das brauchte noch nichts zu bedeuten. Der Großteil der Leute wäre nicht fähig gewesen, den Nachrichtensprecher vom Vorabend mit klaren Worten zu skizzieren. Oder sich auch nur daran zu erinnern, welche Augenfarbe ein naher Verwandter besaß. Nicht wenige hätten Schwierigkeiten gehabt, über die Form der eigenen Nase Auskunft zu geben. Darum auch die Fassungslosigkeit in Anbetracht von Fotografien.
    Freilich war zu befürchten, daß diese junge Frau weder zu den Blinden und Tauben noch zu den Vergeßlichen im Lande gehörte. Daß sie über die Form ihrer Nase bestens Bescheid wußte. Und über einiges andere mehr. Sie hatte in diesem kurzen Moment einen gewieften Eindruck auf Mortensen gemacht, als verfügte sie über die Begabung, mehr als zwei Eindrücke gleichzeitig zu verarbeiten. Keine Frage, sie würde einem Phantomzeichner genau jene Angaben machen können, die nötig waren, um Mortensens Gesicht in einer passablen Version wiederzugeben. Und die Frage war also nur, ob es auch ihr Bedürfnis sein würde, der Polizei auf die Sprünge zu helfen.
    »Wenn das passiert, bin ich dran«, dachte Mortensen und trat aus dem Schutz des Vordachs in den Regen hinaus.
    Er überlegte kurz, seinem Prinzip, sich teure Taxifahrten zu sparen, untreu zu werden. Denn es war ein weiter Weg, der ihm bevorstand. Und zudem war das kaum der geeignete Moment, um ans Geld zu denken. Doch als er sich dem weißen Mercedestaxi näherte, das wie ein glänzender, albinitischer See-Elefant auf dem ansonsten leeren Platz stand, änderte er seine Meinung. Er wollte sein Schicksal nicht noch mehr herausfordern. Denn wenn er in dieses Auto stieg, würde er praktisch einen weiteren Zeugen zum Leben erwecken. Auch der Fahrer wäre dann in der Lage, sich an ihn zu erinnern und damit die mögliche Aussage der jungen Frau nicht bloß zu bestätigen, sondern

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