Ein Sturer Hund
Erfüllung, als er auf einem der Täfelchen einen »Thomas« entdeckte: Thomas Marlock.
Marlock? Was für ein Name? Mortensen überlegte. Marlock kam ihm bekannt vor, aber er konnte nicht sagen, wo und in welchem Zusammenhang er diesen Namen bereits gehört hatte. Oder war es bloß die Ähnlichkeit zu Marlowe? Marlowe, dem Detektiv, beziehungsweise Marlowe, dem Dramatiker? Er beschloß, seine Überlegungen auszusetzen. Es würde ihm schon noch einfallen. Spätestens am nächsten Tag, wenn er wieder in der Bücherei saß, diesem Ort des Erinnerns.
Das Licht ging aus. Eine Weile blieb Mortensen in der Finsternis stehen, als sei er in sie wie in einen zweiten Mantel gehüllt. Einen Mantel von derartigem Gewicht, daß er die Lust aufs Gehen verlor. Doch als vom Durchgang her Stimmen zu vernehmen waren, löste sich Mortensen aus seiner Starre, trat von der Tür weg und ging hinter einem Mauervorsprung, der den Garagenbereich abgrenzte, in Deckung. Es war nicht so, daß er sich richtiggehend versteckte. Aber er wollte auch nicht gesehen werden, zu verdächtig wäre sein Verhalten erschienen, hätte man ihn beim Studium der Namensschilder angetroffen.
Das Außenlicht, das nun ansprang, gehörte nicht zu dem Haus, in dessen dritter Etage Thomas Marlock sich befand, sondern zum gegenüberliegenden, welches zur Straße hinwies, dessen Eingang jedoch auf der Rückseite lag. Vor der Tür hatten sich einige Jugendliche versammelt und unterhielten sich lautstark. Das schwarze Haar der Burschen glänzte wie die Oberfläche von Zylinderhüten. Sie sprachen das Deutsch junger Türken, einmal rollend, dann gedehnt, aber stets auf eine Weise, als würden sie es aus irgendeinem Versteck in ihrer Mundhöhle zerren. Wäre Deutsch nicht ihre Muttersprache gewesen, hätten sie es wohl kaum hier – in dieser Hinterhofidylle – verwendet. Aber für Mortensen klang es nun mal so, als seien diese Jungs im Krieg mit ihrer Sprache. Und zwar keineswegs aus einem Unvermögen heraus. Der Krieg war sozusagen gewollt. Das war allerdings ein Eindruck, den er auch gewann, wenn er Leuten zuhörte, die einen breiten Dialekt sprachen, irgendeinen. Ist der Dialekt breit, behauptete Mortensen, dann steht dahinter ein absichtsvolles Gefecht des Sprechenden mit seiner Sprache. Im Dialekt steckt die Wut. Weshalb eine Welt ohne Dialekt zweifellos die bessere wäre.
Die Jugendlichen schwafelten so lange und so laut, bis jemand aus einem der geöffneten Fenster heraus etwas zu ihnen hinunterbrüllte, und zwar auf Türkisch, um jedes Mißverständnis zu vermeiden. Bei dem Rufer schien es sich um eine Person von Bedeutung zu handeln, denn anstatt frech zu werden, verstummten die Burschen. Zwei von ihnen verschwanden im Hauseingang, während der Rest wieder zurück auf die Straße trat. Die Tür jedoch blieb angelehnt, vielleicht aus Nachlässigkeit, vielleicht um einem Späterkommenden, der ohne Schlüssel war, den Eintritt ins Haus zu ermöglichen. Wie auch immer.
»Es wäre gotteslästerlich, ein Geschenk des Himmels zu verweigern«, dachte sich Mortensen, trat hinter dem Mauerstück hervor, schritt hinüber zu der offengelassenen Tür und trat in das Innere des Hauses. Er handelte ohne zu zögern, wenngleich nicht ohne einen Anflug von Angst. Was er tat, gehörte sich nicht. Zudem würde er kaum imstande sein, es zu erklären. Er hatte hier, erst recht zu dieser Nachtstunde, nichts verloren. Dennoch bewegte er sich die hölzerne Stiege nach oben. Unter der Last seiner zweiundachtzig Kilo gaben die Stufen ein markantes Geräusch von sich. Drrrrpsba! drrrrpsba! drrrr …
Mortensen konnte sich vorstellen, wie ein Dutzend Ohren seinen Schritten folgten. Ohren, die Menschen gehörten, welche, vom Gejohle der Jugendlichen geweckt, jetzt hellwach in ihren Betten lagen und einfach nichts zu tun hatten. Und denen es nun merkwürdig vorkommen mußte, daß die Geräuschfolge zwischen dem dritten und vierten Stockwerk verstummt war. Was eine Menge bedeuten konnte. Harmloses wie Übles.
Doch niemand regte sich. Auch nicht Mortensen, der jetzt zum wiederholten Male in ein Dunkel gehüllt war. Er stand am Rande des Gangfensters und sah zum einzig erleuchteten Raum des gegenüberliegenden Hauses. Der Abstand war nur gering. Vorhänge existierten nicht, und mehrere Lichtquellen illuminierten den gesamten Raum. Mortensen besaß folglich eine hervorragende Sicht.
Durch die zusammenhängende Reihe von drei Fenstern blickte er in das Zimmer, dessen Längsseite von einem
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