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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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schon: der Kopf im Aquarium. Ich erzähl’ dir während der Fahrt, wie ich zu der Sache gekommen bin. Jetzt aber mal los!«
    »Im Auftrag der Gerechtigkeit«, tönte Purcell, startete seinen Wagen, in etwa wie man eine alte, wertvolle Spieluhr in Betrieb nimmt, und sagte: »Er macht sich gut im Winter.«
    »Wer?«
    »Mein Fiat natürlich. Nicht, daß er den Schnee wirklich liebt. Aber er wehrt sich auch nicht dagegen. Ganz der brave Arbeiter.« Dann drückte er eine Taste seines Autoradios, und es erklang ein Madrigal William Byrds.
    »Ein Madrigal«, erklärte Purcell.
    Nachdem sie Stuttgart hinter sich gelassen hatten und nun über eine großzügig angelegte Bundesstraße fuhren, sagte Purcell: »Ich denke, wir werden verfolgt. Ist das ein Problemchen?«
    »Kein Problemchen, Henry. Es wird die Polizei kaum wundern, wenn wir in Zweiffelsknot landen. Das können die sich denken. Was sie sich aber nicht denken können, ist mein Interesse für die dortige Psychiatrie. Dabei soll es auch bleiben. Zunächst einmal.«
    Und damit begann Cheng, seinem Mitarbeiter Purcell davon zu berichten, wie alles gekommen war. Nachdem er geendet und Purcell auch die Zeichnung auf dem kleinen Karton gezeigt hatte, kommentierte dieser: »Grandiose Dame.«
    »Hoffentlich nicht zu grandios«, meinte Cheng.
    »Und wenn doch?«
    Cheng gab keine Antwort. Was hätte er auch sagen sollen? Er spürte jetzt wieder seine Phantomgicht, die sich von der Absenz und Leere des verlorenen Unterarms hinauf zur Präsenz und Fülle des verbliebenen Oberarms zog, geradeso, als würden die Schmerzen aus der Einbildung in die Wirklichkeit übergehen. Oder aus dem Fiktiven ins Materielle.
    Erneut hatte ein Schneesturm eingesetzt, durch den der Fiat wie durch eine sich auflösende Brausetablette gesteuert wurde. Es war nun nichts mehr zu erkennen, außer den Flocken, die so rasch vorbeizogen, daß man sie nicht als Punkte, sondern als Streifen wahrnahm. Purcell war mit dem Tempo auf Dreißig heruntergegangen, und dennoch überkam Cheng ein Schwindel, der sich aus dem Gefühl beträchtlicher Geschwindigkeit ergab. Und aus dem Fehlen von Anfang und Ende.
    Allerdings hätte es gleich eine andere Art von Ende geben können. Ein höchst persönliches Ende. Denn mit einem Mal wurde in dem weißen Geriesel ein dunkler Fleck sichtbar, ein Körper, der auf den Fiat und seine Insassen zuraste. Cheng schloß automatisch die Augen. Dann vernahm er ein scharfes, ziehendes Geräusch. Ihm war, als befände er sich unterhalb einer Eisschicht, über die eben ein Schlittschuhfahrer glitt. Cheng riß seinen Kopf zur Seite und zurück, öffnete die Augen und sah durch die Rückscheibe gerade noch, wie ein sargartiger Behälter abwärts flog, auf die Fahrbahn aufschlug, sich schräg stellte und quer dahinschlitterte. Dann wurde der längliche Kasten von einem Wirbel aus Schnee verschlungen.
    »Gott, was war das?« stöhnte Cheng.
    »Ein Skikoffer«, sagte Purcell und parkte auf dem Pannenstreifen. »Das kommt davon, weil die Leutchen auf ihr Zeug nicht achtgeben.«
    Die beiden Männer stiegen aus und standen eine Weile recht hilflos neben dem Wagen. Das Schneetreiben war derart heftig, daß das einzige, was sie feststellen konnten, die Kratzspur war, die der Skikoffer auf dem Autodach des Fiats hinterlassen hatte.
    Cheng zog sich seinen Mantel über, gab Purcell ein Zeichen zu warten und bewegte sich auf dem Pannenstreifen zurück. In diesem Moment fuhr ein Wagen im Schrittempo vorbei. Offensichtlich hatte der Fahrer dem Skikoffer ausweichen können. Und tatsächlich erkannte Cheng, nachdem er sich an die zwanzig Meter durch den Sturm gekämpft hatte, den dunklen Kasten, welcher mit der Längsseite gegen den Pfosten der Straßenbegrenzung geprallt war.
    So gesehen war eigentlich alles in Ordnung. Niemand war zu Schaden gekommen, Purcells silberfarbenes Autodach ausgenommen. Da der Skikoffer aber zur Hälfte in den Pannenstreifen hineinragte, schob Cheng den Kasten aus dem Gefahrenbereich heraus, was sich angesichts der Schneemassen am Straßenrand, der Schwere des Skikoffers und des Umstands der Einarmigkeit als beschwerlich erwies. Cheng mußte ein Knie auf den Boden setzen, um nicht den Halt zu verlieren.
    Als er den Kasten endlich zur Seite bugsiert hatte, war er derart erschöpft, daß er nun doch umkippte und hinein in die Weichheit einer jüngst entstandenen Schneewächte sank. Er kam sich in diesem Moment ungemein lächerlich und verloren vor und dachte an einen nicht minder

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