Ein Sturer Hund
Wolkenhaufen der Hauptkuppel. Natürlich war es verboten, daß er den Hund bei sich hatte. Aber was war nicht alles verboten in der Welt der Menschen und Hunde. Man wäre verrückt oder stumpfsinnig geworden, hätte man sich an alles gehalten. Den Tadel einiger Personen ignorierte Cheng. Die meisten Besucher bekamen ohnehin nichts mit, da auch sie ihre Gesichter nach oben gerichtet hielten.
Eine halbe Stunde war vergangen, als Cheng aus der Betrachtung wie aus einem ungegenständlichen Traum tauchte und seinen Kopf wieder senkte. Die Stimme einer Fremdenführerin hatte ihn herausgerissen. Eine kleine, schwache schwäbische Stimme, die aber wie eine ätzende Säure die Dinge durchdrang, wie ja überhaupt die schwäbischen Dialekte eine zerstörerische Wirkung besitzen. Sie nehmen den Dingen ihre Würde und Form. Beleidigen Ohren. Malträtieren den akustischen Raum. Und besitzen erwiesenermaßen einen negativen Einfluß auf das Wachstum der meisten Zimmerpflanzen sowie auf die Gesundheit von Singvögeln. Daß das Schwäbische »komisch« sei, ist hingegen ein dummes Vorurteil. Es ist vielmehr gefährlich. Und das ist ja wohl ein Unterschied.
Jedenfalls konnte Cheng, der in dieser Hinsicht seinem Kunden Mortensen nicht unähnlich war, es nur schwer ertragen, wenn jemand diesen Dialekt sprach, ohne an sich zu halten. In kleinen Dosen hingegen, wenn das Schwäbische verhalten zum Ausdruck kam, empfand er es als durchaus erträglich, hin und wieder sogar als angenehm. Wie etwa ein leichter Wind angenehm ist, ein Wind, welcher keine Bäume umreißt, keine Häuser abdeckt, einem nicht den Sand in die Augen weht. Was aber genau der Fall war, wenn jemand seine Mundart ungehemmt zur Sprache brachte.
Merkwürdigerweise hatte Cheng dies keineswegs so empfunden, als er am Vorabend mit den Stammtischgästen geplaudert hatte, deren Redeweise alles andere als verhalten gewesen war. Nun aber fuhr ihm die Stimme der Fremdenführerin mit Gewalt ins Bewußtsein. Nicht wie ein Skalpell, nicht wie ein feiner Bohrer, sondern gleich einem von diesen langen, dicken Nägeln, die mehr oder weniger geschickt in ein Holzbrett geschlagen werden.
Cheng erhob sich. Da er sich so rasch als möglich von dieser quälenden Stimme entfernen wollte, schob er seine Hand unter Lauschers Bauch, hob den Hund auf, fixierte ihn auf Höhe der eigenen Hüfte, trat in den Mittelgang und strebte dem Ausgang zu. Als er nun an den beinahe völlig leeren Reihen entlang ging, bemerkte er am Rand einer der Bänke eine Frau. Er hatte sie nur kurz angesehen und gleich wieder seinen Blick abgewandt. Doch wie so oft, ergab sich aus dieser ersten Wahrnehmung eine wegweisende Richtung. Es war nur wichtig, den Weg auch aufzunehmen. Genau das tat Cheng, indem er seinen Schritt stark einbremste und schließlich stehenblieb, um die blondhaarige Frau nun aus der Nähe zu betrachten. Was sich wegen ihrer gesenkten Kopfhaltung als schwierig erwies. Cheng mußte trotz Hund unterm Arm ein wenig in die Knie gehen, um das Gesicht der Frau zu erkennen. Es war breit und ein wenig flach, dennoch hübsch. Hübsch in dem Sinn, daß dieses Gesicht etwas versprach. Irgend etwas. Die meisten menschlichen Antlitze versprechen absolut gar nichts. Das einzige, wovon sie erzählen, ist das Nichts, welches von Beginn an herrschte. Warum überhaupt Gesichter existieren, die allen Ernstes etwas versprechen, ist eigentlich ein Rätsel. Daß wir sie darum hübsch finden, diese Gesichter, wiederum folgerichtig.
Und ein solches, vom Prinzip vager Ankündigungen beherrschtes Gesicht besaß diese Frau. Dazu trug sie einen hellen, eher dünnen Mantel und hatte den mächtigen Kragen aufgestellt, so daß ihr Kopf wie in einem von diesen Aluminiumblechen steckte, die der Bräunung dienen. Ihre Haut besaß allerdings so gut wie keine Farbe. Als die Frau jetzt aufsah, bemerkte Cheng ihre Augen, bemerkte deren Mandelform und die leichte Geschlitztheit der äußeren und inneren Ränder. Augen, die etwas Ausgeschnittenes besaßen, als seien sie aus einem Modejournal herausgetrennt und auf die Front eines planen Schädels geklebt worden. Daß die Besitzerin dieses formschönen Augenpaars aber ausgerechnet eine polnische Prostituierte darstellen sollte, auf die Idee wäre Cheng nicht gekommen. So wenig wie er auf die Idee kam, es könnte sich bei ihr um das Zimmermädchen mit dem Namen Anna Haug handeln. Hingegen war er überzeugt, nun jener Frau gegenüberzustehen, die in Tilanders Bar ein Porträt Thomas
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