Ein süßer Sommer
Nervensäge. Behütete Tochter aus wohlhabender Familie, geliebt und gehätschelt von sämtlichen Anverwandten. Nicht ganz einssechzig groß, sie reichte mir gerade mal bis an die Schulter, nur knappe fünfzig Kilo schwer, aber imstande, mehr als das Doppelte ihres eigenen Gewichts hinter sich herzuschleifen, um rund einen Meter anzuheben und über die Kante in den Kofferraum eines BMW zu hieven. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, sonst würde ich es nicht glauben. Neunzehn Jahre alt war sie, ein Bündel aus Energie und Lebenslust, ausgestattet mit einem eisernen Willen. Was sie sich in den Kopf setzte, zog sie auch durch – auf Gedeih und Verderb. Manchmal war sie melancholisch, manchmal überschwänglich und immer mit einem schnellen Urteil bei der Hand. Für Candy war die Welt nur gut oder böse, dazwischen gab es nichts. Und Langeweile war bei ihr ein Fremdwort. So auf Anhieb war nichts an ihr, was mich in irgendeiner Weise angesprochen hätte. Ein rundes, noch kindlich weiches Gesicht, glatte Haut, ein kleiner Mund mit prallen Lippen, den sie nur mit äußerster Willenskraft oder im Zustand tiefster Depression geschlossen halten konnte. Beim Küssen funktionierte das auch, wie ich später feststellen durfte. Da hielt sie ihn zwar nicht geschlossen, aber sie war still mit hingebungsvoller Ausdauer. Nackenlanges, leicht gewelltes, dunkelblondes Haar, grüne Augen, deren Farbe manchmal von Unbarmherzigkeit ins Braune getrieben wurde. Und dann strahlten sie arktische Kälte aus. Sie war zierlich wie ein Kind. Und lästig war sie mir in den ersten Stunden, furchtbar lästig. Ein junges Mädchen mit zu schwerem Gepäck und dem Herzen auf der Zunge. Sie hatte die Tür zum Abteil noch nicht völlig zur Seite geschoben, da lief ihr Mund bereits über. Zuerst die üblichen Floskeln.
«Ist hier noch frei?» Sah man doch, außer mir saß keiner da, außer meiner Reisetasche stand oder lag auch kein Gepäckstück herum.
«Darf ich mich zu Ihnen setzen?» Konnte ich kaum verhindern, ich hatte die restlichen Plätze ja nicht reserviert. Ich nickte. Sie lächelte mich an und zeigte dabei eine Reihe kleiner, schneeweißer Zähne im Oberkiefer, die sich hervorragend für eine Zahnpasta-Reklame geeignet hätten, während sie sich mitsamt der quer vor den Knien gehaltenen Reisetasche und dem Monstrum von Rucksack durch die Tür zwängte. Dann bekam ich auch schon die pralle Reisetasche in die Seite gerammt, weil ich leichtsinnigerweise die Armlehne zum Nebensitz hochgeklappt hatte, um es bequemer zu haben. Was ich für einen Flicken gehalten hatte, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als Lederstreifen, der offenbar nachträglich angenäht worden war, um die Tasche sicher zu verschließen. In Form eines Riegels war der Streifen unter den Handgriffen durchgeführt. An seinem Ende befand sich ein kleiner Metallring, auf dem Gobelin-Stoff ein zweiter Ring, beide waren durch ein winziges Vorhängeschloss miteinander verbunden. Das kleine rote Täschchen warf sie hinterher, es fiel mir in den Schoß. Ihr Gesicht hatte in etwa den gleichen Farbton und glänzte feucht, als sie sich unter Verrenkungen bemühte, den Rucksack loszuwerden. Linke Schulter nach unten beugen, linke Hand unter den breiten Gurt schieben, einige hoffnungsvolle, aber ergebnislose Zuckungen mit der Schulter, und die gleichen Bemühungen auf der rechten Seite, bis ich mich schließlich erbarmte.
«Darf ich Ihnen helfen?» Sie schenkte mir das zweite Lächeln, welches praktisch nahtlos in das erste überging und sich nur durch die Intensität von diesem abhob. Ein langer Seufzer begleitete das Strahlen.
«Das wäre sehr nett von Ihnen.» Dann stellte sie fest, dass ich mich garantiert bereits über ihre Bekleidung gewundert hätte. Das hatte ich tatsächlich. Draußen herrschten hochsommerliche Temperaturen. Und sie trug diese Blousonjacke, wattiert, mit einem Gummizug in der Taille und vier beutelartigen Aufsatztaschen zu beiden Seiten der Vorderteile. Die Taschen hatte sie mit allem nur denkbaren Kleinkram gefüllt. Papiertücher, Münzgeld, ihre Fahrkarte, zwei Lippenstifte und ein Deoroller, zwei Tüten mit Pfefferminzbonbons, zu Kugeln gedrückte Alufolie, in der sich vor Tagen belegte Brote befunden haben mochten, jetzt waren die Kerngehäuse einiger abgenagter Äpfel darin eingewickelt. Aber die erstaunlich geräumigen Aufsatztaschen waren nicht der einzige Grund, aus dem Candy sich entschlossen hatte, die Jacke zu tragen, statt sie im Gepäck mit
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