Ein süßer Sommer
Familie Schmitting schon im Laufe des vergangenen Nachmittags. Sie waren wirklich alle in der Klinik gewesen, in der Helen mit ihrer Risikoschwangerschaft in Behandlung war. In der Nacht zuvor hatten die Wehen eingesetzt. Und für Philipp gab es keine Veranlassung, die Familie in dieser Situation mit Fragen zu belästigen. Er wartete bis zum Abend, als Helens Sohn endlich auf der Welt war. Rüdiger blieb noch bei ihr. Ed und Margarete fuhren heim, und Philipp schloss sich ihnen an. Er hatte nicht lange gebraucht, um Margarete zum Reden zu bringen. Es gab ja bereits Alarmzeichen. Seit Candys Besuch in Augsburg vermisste Schwager Paul seine alte Beretta, konnte allerdings nicht sagen, ob er sie selbst verlegt hatte. Und die Sache mit Gertruds Schreibtisch. Darin lagen die Polizeiberichte und Fotos aus Köln. Und Gertrud sagte, sie hätten vorher ganz unten in einem Schubfach gelegen. Margarete war sogar bereit gewesen, mit Philipp zu Helga zu fahren. Auf einen Friedhof hatte sie ihn dirigiert, zum Familiengrab. Dort lag Helga Kuhn seit Dezember . Vorher hatte sie auf einem Kölner Friedhof gelegen. Eine unbekannte Tote ohne Papiere, deren Gesicht so zerstört gewesen war, dass man es nicht in den Zeitungen zeigen konnte. Sonst hätte vielleicht Frau Scherer sagen können, wen Spaziergänger im August im Cranachwäldchen gefunden hatten. Und Hartmut Bender hätte sie wahrscheinlich auch anhand der Fotos aus Candys Album wiedererkannt. Überfahren von einem schwarzen Wagen, wie die Polizei anhand von Lackspuren hatte ermitteln können. Wie Candy zuletzt gesagt hatte. Den schuldigen Fahrer hatten sie nicht ausfindig machen können. Es gab keinen Hinweis auf Holger Gerswein – weder in Köln noch in Helgas Tagebüchern. Und Gertrud hatte nicht gewusst, mit wem Helga sich in Köln treffen wollte. Ihrer ältesten Schwester hatte Helga etwas von einem Professor und Studienunterlagen erzählt. Deshalb waren die Nachforschungen ihrer Familie damals über ein Jahr lang ins Leere gelaufen. An der Kölner Uni hatte kein Mensch Helga zu Gesicht bekommen. Niemand konnte sagen, ob sie überhaupt in Köln eingetroffen oder vielleicht in Frankfurt in einen Flieger gestiegen war, um irgendwo Entwicklungshilfe zu leisten. Das alles habe ich auch noch einmal persönlich von Margarete gehört, als ich mutig genug war, Candys Familie in Hamburg zu besuchen. Das war Ende August . Sie war schon beerdigt. Und in meinem Schlafzimmer standen immer noch ihr Rucksack und ihre Reisetasche hinter der Tür. Hamacher hatte sich erboten, die Sachen nach Hamburg zu schicken. Doch das musste ich selbst erledigen. Kann sein, dass ich während der Fahrt auf einen Betonpfeiler oder sonst etwas gehofft habe. Aber es ging vorbei wie alles andere. Margarete erfuhr erst von mir, wie Candy den Tatsachen auf die Spur gekommen war. Rudy hatte von nichts eine Ahnung. Und Margarete machte sich große Vorwürfe, weil sie
«ihrer Kleinen» niemals die Wahrheit gesagt, ihr nur viel von Helga erzählt und dann zugelassen hatte, dass Candy vor dem Umzug nach Hamburg dabei helfen durfte, den Dachboden zu räumen. So viel altes Papier, Rechnungen für Operationen, Krankenhausaufenthalte und die alten Tagebücher. Candy hätte alles in den Müll werfen sollen. Niemand hatte sich davon überzeugt, ob sie es tatsächlich getan hatte. Sieben Tagebücher waren es insgesamt, verständlich geschrieben, wie Hamacher vermutet hatte, allerdings gab es auch darin keine Namen, nur Buchstaben und die kleinen Zeichnungen, die Candy übernommen hatte. Man fand die Bücher in ihrem Zimmer, und vorher hatten sie offenbar versteckt auf dem Dachboden des Hauses in Philadelphia gelegen. Margarete hatte sie nie zu Gesicht bekommen.
«Ich wusste nicht einmal, dass Helga Tagebuch geführt hat», sagte sie.
«An die Arztrechnungen habe ich nicht gedacht.» Natürlich war ihr aufgefallen, dass Candy nach dem Umzug anders war, stiller, nachdenklicher, verschlossener, dass sie oft stundenlang bei verschlossener Tür in ihrem Zimmer saß. Aber das hatten sie der großen Umstellung zugeschrieben. Ein fremdes Land, eine neue Schule. Es drängte Margarete, von mir zu erfahren, wie Candy die Wochen in Köln verbracht hatte. Aber dass sie mehr als einmal mit Gerswein zusammen gewesen war, hätte ich nie über die Lippen gebracht. Und auch nicht, dass ich dabei war, als er starb. Bei der Polizei hatte ich ausgesagt, ich hätte angenommen, dass Candy einen Spaziergang im Cranachwäldchen machte. Deshalb
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