Ein süßes Abenteuer
schlage ich vor, wir gehen jetzt zur Remise.”
“Wer ist dieser Mann, Sir Neville?”, protestierte Isabella mit schriller Stimme. “Woher nimmt er das Recht, mich zu befragen und Ihnen Anweisungen zu geben?”
Wenn er seinen Begleiter als einen ehemaligen Bow Street Runner vorstellte, würde sie sich noch mehr aufregen. Also entschied er sich für eine Halbwahrheit.
“Er arbeitet für das Innenministerium, Mrs. Marchmont. Heute hat er mich zufällig wegen einer anderen Angelegenheit aufgesucht, als ich mir bereits Sorgen um die Duchess machte. Sicherheitshalber beschlossen wir, hier gemeinsam nach dem Rechten zu sehen.”
Diese Erklärung stellte Isabella einigermaßen zufrieden, sodass sie dem Butler auftrug, die beiden Besucher zur Remise und den Stallungen zu führen.
Leider erfuhren sie von Corbin, dem ersten Stallknecht, wenig Nützliches, auch wenn das Verschwinden seiner Herrin ihn sichtlich beunruhigte.
“Gilbert fährt sehr sicher”, meinte er. “Außerdem kennt er London wie seine Westentasche. Ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann, deshalb wähle ich immer ihn, wenn Ihre Gnaden einen Kutscher braucht. Wenn ich nur wüsste, wo sie so lange bleiben!”
“Seit dem frühen Morgen findet in London ein großer Protestmarsch statt”, antwortete Jackson. “Durchaus möglich, dass sie irgendwo im Verkehr feststecken. Wir mussten auch einen weiten Umweg in Kauf nehmen.”
“Und ich habe mich noch gefreut, dass sie ausnahmsweise ihre Kutsche nimmt, wie es sich für eine feine Dame gehört, und nicht ihren Phaeton! Vor allen Dingen hat sie ausdrücklich darum gebeten, dass Gilbert sie kutschiert.”
Weil wir ihr eingeschärft haben, nirgendwo allein hinzugehen, dachte Neville im Stillen. Mit der Folge, dass jetzt gleich zwei Personen vermisst werden.
“Vielleicht machen wir unnötig viel Aufhebens um diese Sache”, sagte Jackson. “Aber selbst wenn es eine harmlose Erklärung gibt, müssen wir die beiden dringend finden.”
“Ich wünschte, ich könnte glauben, dass sie bloß einen Umweg fahren”, seufzte Neville, als er und sein Begleiter wieder in seiner Kutsche saßen.
“Ich auch. Und jetzt schlage ich vor, dass wir zuerst mit Frank Hollis und dann mit Henry Latimer sprechen. Bei dem Gedränge auf den Straßen können wir uns die Mühe sparen, nach der Duchess zu suchen. Nach allem, was ich inzwischen über Hollis gehört habe, halte ich ihn für einen schwachen Charakter. Wir werden ihn schon zum Reden bringen, vorausgesetzt, er weiß etwas. Manchmal kommt es mir vor, als ob wir einem Schatten nachjagen.”
Darin stimmte Neville ihm zu. Nur dass er keinem Schatten nachjagte, sondern Diana. Einem Menschen aus Fleisch und Blut, der Frau, die er liebte, an die er ununterbrochen denken musste und die er um ihre Hand bitten wollte.
Heute Morgen geht aber auch alles schief, dachte Diana, als sie auf dem Weg zu Neville durch den Protestmarsch aufgehalten wurde. Die Menge forderte das Wahlrecht, ordentliche Löhne und billige Lebensmittel. Wegen der schrecklich kalten und verregneten Sommer hatte es in den vergangenen beiden Jahren Missernten gegeben, nicht nur in England, sondern in ganz Europa. Überall ereigneten sich ähnliche Unruhen.
An der Spitze des Zugs marschierten einige Männer, die aus den Industriestädten der Midlands angereist waren, um der Regierung auf die denkbar dramatischste Art und Weise ihr Elend vor Augen zu führen.
In den engen Straßen kam der Verkehr beinahe völlig zum Erliegen. Immer wieder musste Dianas Kutsche anhalten, wenn das Gedränge so groß wurde, dass niemand sich mehr bewegen konnte. Dann hämmerten zerlumpte, hagere Männer und verhärmte Frauen an die Türen und Fenster ihres Fahrzeugs, wobei sie wüste Beschimpfungen ausstießen. Einer von ihnen zog sogar ein Messer aus seinem Gürtel und zerkratzte das Medbourne-Wappen auf dem Wagenschlag.
Damit nicht genug, brüllten ein paar mit Heugabeln bewaffnete Burschen Gilbert zu, er solle seine Herrin und die Kutsche im Stich lassen und sich ihnen anschließen. Als er sich weigerte, drohten sie damit, ihn gegen seinen Willen vom Kutschbock zu zerren.
Gerade als ihre Lage immer verzweifelter schien, erreichten sie einen großen Platz, den Diana noch nicht kannte, von dem jedoch glücklicherweise mehrere freie Straßen wegführten. Sobald sich eine Lücke in der Menge auftat, nutzte Gilbert die Gelegenheit und trieb die Pferde im Galopp auf eine halb leere Seitenstraße zu seiner Linken zu,
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