Ein sueßes Stueck vom Glueck
dunklen Schatten. Selbstverständlich war er nicht da. Der logische Verstand sagte ihr, dass er zu Hause war und schlief oder vielleicht mit Chantal zusammen war und nicht schlief – der Gedanke ließ sie zusammenzucken. Aber Logik hatte wenig mit Empfindungen zu tun. Er war hier. Sie konnte seine Anwesenheit spüren. Dass er sie dabei beobachtete, wie sie seine Zauberhöhle erforschte. Seine Augen glühten in der Dunkelheit.
Sie wich seinen Blicken aus, indem sie den Kühlraum betrat, wo sie große Paletten mit Sahne vorfand – crème fraîche, crème fleurette –, teils in Pappbechern, teils in Glasflaschen, als seien sie direkt vom Bauernhof geliefert worden. Sie hätte sie am liebsten in einen der Kessel geschüttet, etwas aus den braunen Glasflaschen dazugegeben und beobachtet, welche Funken sie schlagen konnte, welchen Zauber sie hervorbringen würde. Sie sah auf und erwartete fast, dass Sylvain Marquis auf der Schwelle der Eingangstür stand und sie beobachtete.
Nein. Niemand da. Doch der erwartungsvolle Schauder und der Adrenalinschub, den er ausgelöst hatte, verschwanden nicht.
Neben der Sahne standen große Butterpakete, der französische Name auf der Verpackung sagte ihr nichts. Selbst seine Butter kam aus einer kleinen, ausgesuchten Molkerei. Er war wahrscheinlich in der Lage, das Gras, das die Tiere gefressen hatten, herauszuschmecken und seine Bestellung darauf abzustimmen.
Sie flüchtete aus diesem Kühlraum in den nächsten und kam sich vor, als folge ihr der Bann des Magiers, als würden Greifarme schon ihre Knöchel umranken. Er würde sie fangen und in seine Klauen bekommen, und wer wusste schon, was dann mit ihr geschehen würde.
Sie flüchtete in den nächsten Kühlraum und versuchte den Magier abzuschütteln, indem sie sich unsinnigerweise immer tiefer in ihn stürzte. Sie erkannte die Temperatur auf ihrer Haut, wie ein Wanderer die Heimat erkennt – gute 12 Grad Celsius, eine Temperatur wie im Weinkeller, die perfekte Temperatur zur Lagerung von Schokolade.
Hier war sie von enormen Barren umgeben. Sie schaltete ihre kleine Stiftleuchte ein; der Strahl huschte über weiße, dunkle und Milchschokolade. Neben den Barren waren Kisten mit pistoles, kleinen Schokoladentalern, gestapelt. Sie langte willkürlich hinein und kostete einen – es war dunkle Schokolade, so bitter, dass ihre Zunge wässrig wurde.
Was würde Sylvain Marquis mit dieser Bitterkeit morgen anfangen? Was würde er aus dieser Schokolade machen, und auf welche Weise würde dieser Geschmack ihren ganzen Körper zum Schmelzen bringen?
Sie drang tiefer in den Kühlraum vor und hielt dann inne; alle Härchen ihres Körpers stellten sich vor Wonne auf. Hier standen die Ergebnisse des Nachmittags: reihenweise Pralinen in Gussformen, die bei 17 Grad fest werden sollten. Morgen würden sie dann perfekt gestaltet die Form verlassen, von behandschuhten Händen Stück für Stück in Schachteln verpackt und schließlich für 120 Dollar das Pfund verkauft werden. Sie wollte gerade nach einer greifen, als ihr Handy klingelte.
Sie fuhr zusammen. Hektisch schaute sie sich um und erwartete schon fast, auf der Stelle verhaftet zu werden. Der Magier zog sich missvergnügt zurück.
»Dad!«, zischte sie. »Was ist los? Es ist nach Mitternacht!«
»Ich verwechsele dauernd die Richtung der Zeitverschiebung«, sagte ihr Vater reumütig. »Jetzt dachte ich, bei euch wäre gerade Nachmittag. Habe ich dich geweckt, Liebes?«
»Nein, ich –« Sie unterbrach sich. Es wäre weitaus einfacher gewesen, Ja zu sagen.
»Wirklich? Was machst du gerade? Nicht arbeiten, hoffe ich. Oder bist du zum Essen ausgegangen? Hast du schon Kontakt zu Claude de Saint-Léger aufgenommen?«
Cade blickte sich in der Manufaktur um. »Ich, also – um die Wahrheit zu sagen …«
Zu schade, dass sie nicht ihren Großvater am Telefon hatte. Grandpa Jack wäre begeistert. Er hätte längst ein Flugzeug gekapert und wäre zu ihr nach Paris geflogen. Ihr Vater nahm die Bürde des Firmenvorsitzes einer der größten Firmen Amerikas sehr ernst und war von daher wenig geneigt, sich einen Akt der Wirtschaftskriminalität zu erlauben, zumindest keinen, bei dem man verhaftet werden konnte und schlechte Presse ernten würde. Von einer fiesen kleinen Marketingtrickserei gegenüber Mars mal abgesehen, aber das war eine ganz andere Geschichte.
»Wirklich? Du arbeitest an einem Sonntagabend in Paris?«, fragte ihr Vater lachend und klang liebevoll. »Das ist meine Tochter.
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