Ein sueßes Versprechen
schneebedeckten Gipfel in der Ferne, und hatte den Einfall gehabt, diese Aussicht als Analogie für die Herausforderungen des Lebens zu verwenden. Berge als Hindernisse, als Hürden, die es zu überwinden galt.
Wie Rafe Carstairs – oder genauer ihre Reaktion auf ihn. Sie war sich immer noch nicht sicher, was sie deswegen unternehmen sollte. Was sie deswegen unternehmen konnte, welche Möglichkeiten sich ihr boten. Das Phänomen zu ignorieren, hatte es nicht verschwinden lassen. Und da er sich eindeutig der Wirkung bewusst war, die er auf sie hatte, und sie nicht besser kontrollieren konnte, als sie es vermochte …
Minuten später blinzelte sie und erkannte, dass sie in Gedanken ganz woanders gewesen war und nicht bei irgendwelchen Bergen. Sie hatte Tagträumen nachgehangen. Sie konnte sich nicht erinnern, vorher jemals Tagträume um einen Mann gesponnen zu haben.
Sie schüttelte das störende Ereignis ab und entschied, dass sie mit dem Artikel zufrieden war. Sie versiegelte ihn zusammen mit dem aus Pressburg – »Über das Bewahren der Schatten des Schicksals« – und schrieb die Adresse ihres Agenten vorn darauf, dann erhob sie sich und ging zu ihrer Kabine. Rose wusste um ihre geheime Karriere und würde dafür sorgen, dass der Brief aufgegeben wurde.
Während ihre Herrin über die Tanzfläche im Ballsaal in der Hofburg wirbelte und versuchte, nicht zu gähnen.
Es war beinahe zehn Uhr, als Rafe mit Loretta neben ihm und Esme an seinem Arm das obere Treppenende in der Hofburg erreichte. Die Empfangsreihe reichte den ganzen Treppenaufgang entlang über den Flur bis zu der Tür zum Ballsaal, wo der Großherzog und die Großherzogin standen, um ihre Gäste zu begrüßen. Rafe blickte auf die Massen auf der Treppe hinter sich und dankte dem Himmel, dass sie früher hier angekommen waren. Er hatte vergessen, wie es auf großen Bällen zuging – das lange Warten auf den Stufen, das Gedränge im Ballsaal.
Er war noch nie ein begeisterter Besucher solcher sogenannter Unterhaltungen gewesen. Seine Neigung, sie und ähnliche gesellschaftliche Veranstaltungen nach Kräften zu meiden, hatte in der Tat dazu beigetragen, ihn in Richtung Militär zu lenken.
»Sie sehen überaus beeindruckend aus, mein lieber Junge.« Esme klopfte ihm mit dem zusammengeklappten Fächer auf den Arm. Sie lehnte sich zurück und betrachtete seine Schultern, die in feinsten schwarzen Wollstoff gehüllt waren. »Und ich bin noch mehr beeindruckt, dass es Ihnen gelungen ist, einen Schneider zu finden, der Sie so kurzfristig angemessen ausstatten konnte.«
Er erwiderte ihren Blick.
»Preußische Husaren. Gegenwärtig sind ein paar davon hier im preußischen Konsulat stationiert. Ich habe um Empfehlungen gebeten.«
Esme lachte.
»Klug. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, dass sich die Mühe gelohnt hat.«
Er runzelte die Stirn.
»Ich fühle mich … komisch.« Er blickte auf seinen Ärmel. »Ich erwarte irgendwie immer, dass mein Rock rot ist.«
»Ah ja, Sie haben Ihr Offizierspatent verkauft, daher ist wohl Schluss mit roten Uniformröcken. Es bleibt Ihnen nur noch, Brummells Vorbild zu folgen und sich an klassisches Schwarz zu halten. Allerdings meine ich mich zu entsinnen, dass er die Ansicht vertrat, auch tiefes Dunkelblau sei noch akzeptabel für den Abendanzug eines Gentleman.«
Es fiel ihm schwer zu sagen, ob sie ihn aufzog oder nicht, daher brummte er nur etwas und ließ es dabei bewenden.
Aber die Bemerkung, Mitternachtsblau würde ihm stehen, ließ ihn nach rechts blicken. Loretta stand neben ihm, wunderschön anzusehen in einem lavendelblauen Seidenkleid, das genau den Farbton ihrer Augen traf. Im Licht der Kronleuchter schimmerte ihr dunkles Haar, das zu einer Hochfrisur aufgesteckt war, aus der ein paar vorwitzige Löckchen gezupft waren. Die obersten dieser Löckchen befanden sich auf Höhe seiner Augen.
Das Ausmaß sahnig weißer seidiger Haut, das in dem tiefen Ausschnitt ihres Abendkleides seinen Blicken dargeboten wurde, ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihre Augen jedoch sagten, dass sie in Gedanken weit weg war, fast wirkte es, als debattierte sie mit sich selbst. Was auch immer das Thema war, sie hatte die Lippen leicht gespitzt.
Der Wunsch, sie zu küssen, erfasste ihn.
Er blickte geradeaus und runzelte insgeheim die Stirn. Er hatte diesen gedankenversunkenen Blick schon vorher gesehen, aber angesichts ihrer Umgebung hier fragte er sich doch, was eine junge Frau derart beschäftigen konnte, dass sie
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