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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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wir alle, die wir von der gegenwärtigen ungerechten Weltordnung profitieren, auf Dauer nur überleben können, wenn wir uns auch um das Wohlergehen der Menschen sorgen, die jetzt unter dieser »Ordnung« leiden.
    Während die Redner wechseln, die Argumente hin- und hergehen, frage ich mich, ob ein Außenstehender heute noch – wie vor wenigen Jahren – erkennen würde, wer hier aus dem Osten, wer aus dem Westen kommt; erinnere mich, wie unsere Themen wechselten, zuerst die Problematik der Wende, dann die Strukturen der westdeutschen Institutionen, und immer öfter uns alle betreffende Probleme. Eigentlich, denke ich, hat dieser Kreis seinen Zweck erfüllt, aber mein Vorschlag, ihn mit dem Auszug aus seinem langjährigen Domizil zu beenden, kommt zu keinem günstigen Zeitpunkt und stößt sofort auf Widerspruch: Man wolle weder die Nähe untereinander noch die Offenheit in der Diskussion, die man sonst nirgendwo fände, in Zukunft missen. Das nächste Mal werden wir darüber entscheiden.
    In den Spätnachrichten erfahre ich, das erste Sicherheitspaket des Innenministers ist vom Bundesrat angenommen worden.
    In jener Wachmüdigkeit, die das Einschlafen schwer macht, lese ich im Bett noch im Doctorow, meinem treulichen Begleiter durch diesen Tag. Ich stoße auf eine überraschende Stelle, die allerdings nicht von ihm selbst, sondern von Ludwig Wittgenstein ist und jedem Hang zu europäischer Überheblichkeit, sollte er sich irgendwo noch gehalten haben, den Garaus macht: »Postum möchte ich sagen, daß Europa die Schwäre der Welt ist, daß ihr in Amerika, die ihr das Beste, was Europa zu bieten hat, genommen habt und hofftet, dem Schlimmstenzu entgehen, im Dunkeln pfeift. All euer gottgesättigtes Denken bildet die religiösen Figuren nach, die europäische Kleriker aus der Wahnwelt des Vorderen Orients und der Antike geformt haben, all eure sozialen Reibungen sind das Erbe der kolonialistischen, versklavenden Wirtschaftssysteme europäischer Geschäftsleute, all eure metaphysischen Probleme haben europäische Intellektuelle für euch ausgeheckt, und nun seid ihr über den Ozean gekommen und in zwei Weltkriege geraten, die europäische Politiker entfacht haben, wodurch ihr in eurer Republik eben jene militaristische Staatsgesinnung etabliert habt, die unsere Städte seit Hadrians Zeiten zum Lodern bringt.«
    Wie sagte doch Ingeborg Bachmann, eine Schülerin Wittgensteins? »Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont. / … Es kommen härtere Tage.«

Freitag, 27. September 2002

Berlin – Woserin
     
 
    Der Tag scheint grau zu werden, trotz freundlicherer Prognosen. Vor dem Aufstehen noch ein paar Blicke in die Grass-Biographie von Michael Jürgs. In dem Kapitel geht es um die privaten Querelen nach der Trennung von seiner ersten Frau, nach dem Scheitern der Beziehung zu einer Frau Schröder, die Zeit der Annäherung an Ute und eben auch an Ingrid Krüger, die dann Nele zur Welt brachte. Alles natürlich unterhaltend für den Außenstehenden – wir hatten ja lange gedacht, Nele sei von Wolf Biermann –, aber es kann doch nicht anders als verletzend für Ute und wahrscheinlich auch für Ingrid Krüger sein. In diesem besonderen Fall will der Biograph, glaube ich, sich mit seinem Insider-Wissen hervordrängen und nimmt dafür in Kauf, daß der Text an Seriosität verliert.
    Nach den üblichen Morgenritualen die Zeitung. Fünf Tage nach der Wahl mit dieser Wahlnacht, die erst gegen Morgen die Entscheidung für Rot-Grün brachte. Schlagzeilen: SPD will Ärztekartell brechen. – Clark: US -Druck auf die UNO richtig (Die Frage, ob die USA um jeden Preis einen Krieg im Irak anfangen werden, und die Weigerung Schröders, daran teilzunehmen, haben mit wahlentscheidend gewirkt.) – Irak-El-Kaida: Mangel an Beweisen. – In USA : Wahlkampf mit Saddam. – Westerwelle bricht mit Möllemann. – Acht Tote bei neuer Gewalt im Nahen Osten. – Ströbele hat ein Direkt-Mandat gewonnen – die zwei SPD -Mitglieder, die ihmdabei geholfen haben, sollen dafür aus der Partei ausgeschlossen werden. – Wenn Börsen sterben – der Neue Markt soll geschlossen werden. – Die PDS zieht aus dem Bundestag aus. »Nur wer sich aufgibt, ist verloren.« – Anklage Völkermord im Milošević-Prozeß in Den Haag. – Israelischer Raketenangriff gegen Hamas. – Staatsanwaltschaft klagt Max Strauß an – wegen Steuerhinterziehung. – Im Feuilleton: Sehnsucht nach nationalem Kitsch. – Das

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