Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
übernommen, für das leibliche Wohl der Gäste zu sorgen, den ganzen nächsten Tag über werden sie in der Küche tätig sein, schnippeln, kochen, formen – eine Fülle exquisiter Vorspeisen und eine sehr gute Kürbissuppe, so daß auf den eigentlich vorgesehenen Hauptgang – ein Pilzrisotto, für das wir die Pilze mitgebracht und dann auch geputzt und geschnippelt haben – verzichtet wurde.
Aber wir sind noch am Vorabend, für den Tinka riesige Töpfe mit Hühnersuppe nach griechischer Manier gekocht hat, die dann von den schon Anwesenden im großen Zimmer eingenommen wird. Ich sitze bei der Gruppe von Martins Verwandten – wir sind natürlich die Ältesten: Die Schwester Toni und ihr Mann aus Bremen, Inge, die Witwe des verstorbenen Bruders Hans aus Rostock (über deren Trauer und über die furchtbaren Schwierigkeiten, die ihr Nachbar ihr bereitet, mir später erzählt wird), Ludwig, der Bürgermeister in Wernigerode ist und mich gleich für eine Lesung im nächsten April anheuert, Ivo, der Schwager aus Halle, Hals-Nasen-Ohrenarzt in Rente, und Heidi, Martins Schwester, mit der ich mich gut verstehe, ein herzlicher, warmer, natürlicher Mensch. Wir erzählen uns, wie wir das letzte Jahr verbracht haben (ich auch über meine diversen Sommer-Krankheiten), sie spricht vom Umbau des Hauses nach dem Tod der Mutter, vom Einzug der Familie ihres Sohnes, von Schwierigkeiten mit dem anderen Sohn usw.
In der Diele steht eine Weile ein Grüppchen von »Politikern« zusammen, im Zentrum Hans Misselwitz, der später kam wegen eines Treffens mit Gewerkschaftsleuten, an dem er als Abgesandter der SPD teilgenommen hat. Ich höre den Satz: »Wir wollen die Ökonomie umsteuern!«, da stelle ich mich dazu und frage: In welche Richtung? – Ich höre: In Richtung Lafontaine. Man könne nicht auf diesem neoliberalenKurs der letzten vier Jahre bleiben. – Ob Schröder das auch so sehe? – Er glaube schon. – Drum herum stehen Freunde von Tinka und Martin, zumeist aus dem Friedenskreis, die entweder Sozialdemokraten oder Grüne sind. Unisono begrüßen sie den Coup, der Ströbele gelungen ist: Im Wahlkreis Friedrichshain ein Direktmandat zu gewinnen, ohne von den Grünen aufgestellt worden zu sein: Er ist ihnen zu unbequem. (Dieses Direktmandat hat er einem PDS -Kandidaten abgenommen und damit große Politik gemacht: Wäre dieser PDS -Mensch als Dritter seiner Partei in den Bundestag eingezogen, hätten sich die Kräfteverhältnisse so geändert, daß Rot-Grün wahrscheinlich nicht mehr hätte koalieren können und alles auf eine große Koalition hinausgelaufen wäre, die übrigens Günter Gaus bevorzugt hätte.) Noch erzählt man sich, wie man die Wahlnacht erlebt hat, aber ich merke, wie schnell die Erinnerung daran durch die neuen Tatsachen überlagert wird.
Im kleineren Kreis sitzen wir mit den Freunden aus der Nachbarschaft, Andrea, die von den Fortschritten bei der Mittelbeschaffung für die Kulturscheune Rothen erzählt, Carola, die Töpferin, und Katrin, die andere Töpferin, die die kleine Haushälfte unseres Nachbarhauses vor einem Jahr gekauft hat, die in desolatem Zustand war und ist, nicht mal Wasser gibt es, und Pfarrer Lange hat ihr verboten, welches vom Friedhof zu holen, Katrin, die mit unglaublichem Einsatz und größter Tapferkeit in Minischritten das Haus saniert und zugleich in einem selbst aufgebauten Brennofen schöne Keramik brennt und auf die Märkte bringt. Sie erzählt von der unvorstellbaren Bürokratie, die einsetzt, wenn man einen Platz auf einem Markt beantragt, was alles an Anträgen und Bescheinigungen man da einreichen und wieviel man dann dafür bezahlen muß. Alles Wirklichkeitspartikel, von denen ich ohne Woserin nichts erfahren würde.
Spät kommt, ziemlich aufgelöst, eine jüngere Frau an (für mich sind die inzwischen mindestens Vierzigjährigen immer weiter »jüngere« Frauen), die erzählt, daß sie den Einstieg nach Woserin nicht gefunden hat, bis nach Sternberg geriet und dann immer noch eine Stunde in der inzwischen ziemlich düsteren Umgebung im Auto herumgeirrt ist. Ein neuer Nachbar von gegenüber hat ihr dann Bescheid gegeben, nachdem sie ihm zwei Fragen beantwortet hatte: Was sie denn mache. – Sie male. – Gute oder schlechte Bilder? – Das wird der Landschaftsarchitekt gewesen sein, der sich jetzt hier angesiedelt hat, und der letzte Gast ist Birgit Schöne, die wir mindestens zwanzig Jahre nicht gesehen haben. Die wider alles Erwarten – sie war immer
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