Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
ein etwas ältliches Fräulein taucht vor mir auf, wir hatten wohl mal Erdkunde bei ihr. Ich soll ihr einen Gruß schicken, aber sie ist fast blind, ein Buch wäre wohl nicht das Richtige. Es ist fast unheimlich, mir vorzustellen, daß diese damals (für mich) schon ältliche Frau noch lebt.
14 Uhr 35, Abfahrt nach Woserin, zu dem Fest von Tinka und Martin, dessen Anlaß ihr gemeinsamer hundertster Geburtstag ist: Sie sechsundvierzig, er vierundfünfzig. Viel Verkehr, Freitag nachmittag, man fährt schon aus der Stadt auf die Datschen oder weiter weg, Lastwagen sind auch noch reichlich unterwegs. Manchmal langsamer Verkehr, aber kein Stau. Ella, die hinter mir sitzt, sagt, in der Ukraine gebe es nicht so große freie Flächen, wie sie hier vom Auto aus zu sehensind: Jedes kleinste Stückchen Land sei dort verpachtet und als Garten genutzt, weil die Leute sich angesichts der schlechten Versorgungslage und des Mangels an Geld soweit wie möglich selbst versorgen müßten. Sie fahren mit Bussen in die Umgebung der Städte und bebauen an den Wochenenden ihre Gärten, Ellas Familie ist vollkommen zerrissen. Sie ist Jüdin, lebt (seit sieben Jahren?) in Berlin, war zuerst in Tinkas OWEN , hat jetzt eine eigene Agentur (oder so ähnlich) aufgemacht: Beratung von Immigrantinnen, Nachhilfeunterricht usw. Ihre Tochter lebt in Toronto, Kanada. Ihr Enkelsohn fand sich da nicht zurecht, kam zu ihr, lebte dann ein Jahr beim Vater in Charkow und ist jetzt nach Toronto zurückgegangen, paßt sich besser an. Ella ist ursprünglich Physiklehrerin gewesen.
Manchmal schlafe ich ein bißchen im Auto. Anton hat die ganze Zeit seine Kopfhörer auf und ist unansprechbar. Ich bin immer wieder überrascht, wie ähnlich er Helene jetzt sieht, wenn er seine Haare hinten zusammengebunden hat. Er ist vor zwei Tagen achtzehn geworden – also in jedem Sinne mündig. Schwer vorstellbar. Das Wetter ist zuerst bedeckt, nach Wittstock, dem Norden zu, reißt der Himmel auf: »Schönes Wetter in Mecklenburg!« Wir machen Rast in der letzten Raststätte vor der Abfahrt Hamburg, sehr enttäuschend, schlechter trockener Kuchen, dünner Kaffee.
In Woserin sind wir die ersten von den hundert Gästen, die erwartet werden. Das Vorauskommando, bestehend aus Tinka, Martin, Helene, Timo, Olaf, hat die untere Etage in einen durchgehenden Eß- und Begegnungsraum umgewandelt, mit Tischen und Plastikstühlen, die Timo in einem Kleinlaster von seinem Vater, dem Verwaltungsdirektor eines Krankenhauses, geliefert bekam. In mein Zimmer wurde Gerds Bett hineingestellt, sonst blieb es unverändert und ein guter Rückzugsort. Die Stimmung bei den Veranstaltern ist gut. »Kein Streß!« heißt die Losung. Tinka nach Haarwäsche mit blondem Wuschelkopf, Helene ist die Managerin des Festes und »hat alles im Griff«, Timo gibt bedingungslos Unterstützung – die beiden wirken, als seien sie schon lange zusammen. Martin gehört da hin. – Timo erzählt von seinem Job als Kellner im »Adlon«: Wie er in einen Frack gesteckt wurde und gleich bei einem großen Dinner mit bedienen mußte, mit ganz wenigen Anweisungen versehen. Wie schwer die Teller auf den Armen sind, wenn noch die Haube darüber ist. Daß man am nächsten Tag Muskelkater davon hat. Wie ein anderer, der drei, vier Tage nach ihm anfing, gleich bei seinem ersten Einsatz der Gästin den ganzen Teller aufs Kostüm schüttete und sie dann noch nicht mal richtig gesäubert hat … Er wird jetzt einen Zusatz-Computerkurs machen und dann als Praktikant in einer Designerfirma anfangen, wo er genau das lernen kann, was er möchte.
Allmählich trudeln Gäste ein, manche mit Autos – der Wagenpark unten auf der Wiese wächst –, manche werden von Olaf aus Güstrow mitgebracht. Uta kommt, Olafs schöne, lebenspraktische Freundin aus Potsdam, die dort einen Weinhandel betreibt und große Partys mit Catering versorgt, die nun überlegt, nach Mecklenburg zu kommen, um endlich mit Olaf zusammensein zu können und nicht nur eine Wochenend-Ehe führen zu müssen (weil der seinen blühenden Olivenhandel nicht verkaufen kann: Der potentielle Käufer bekommt bei den Banken keinen Kredit. So geht Olaf weiter auf die Märkte Norddeutschlands). Uta könnte sich vorstellen, ein Jahr nach Frankreich zu gehen, um dort zu lernen, wie man guten Käse macht, und diesen Beruf des Käsemachers dann in Mecklenburg auszuüben: Wieso sollten die Leute hier nicht an wirklich gutem Käse interessiert sein? – Diebeiden haben es
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