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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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angespannte Verhältnis von Literatur und Politik im neuen Rußland. – Sternentstehung unter Schock: Zwei konkurrierende Theorien wollen die Bildung der selbstleuchtenden Himmelskörper erklären. – Im Berlin-Blatt: Fahrradfahrer verletzte Frauen im Vorbeifahren. – Deutsch aus dem Koffer: Bildungssenator Böger bereitet Reformen für Kitas und Schulen vor. – Polizei befreite Geiseln – und verlor das Lösegeld. – Am Sonntag werden 48 000 Läufer zum Marathon erwartet. – Der öffentliche Dienst macht vielleicht bald früher Feierabend. – Von Motten befallenes Laub von Kastanien wird kompostiert. – Literaturnacht im Stadtbad, wo auch Jana aus ihrem Buch lesen wird. Und so weiter, und so weiter. – Auf der Wirtschaftsseite werden unter der Überschrift »Hochstapler, Lebemänner und Schurken« vier Köpfe von Managern abgebildet, die »für den Niedergang am Neuen Markt« stehen. – Natürlich stehen hier die eigentlich wichtigen Nachrichten, die das Handeln der Politiker, die auf den ersten Seiten vorkommen, weitgehend steuern.
    Während ich die Waschmaschine bediene, aufräume, abwasche, höre ich aus dem Radio, die Öko-Steuer bzw. ihre Fortsetzung sei ein Streitpunkt bei den Koalitionsverhandlungen zwischen Rot-Grün. Eine Gesprächsrunde unterhält sich darüber, wie, nach den verheerenden Ergebnissen der Pisa-Studie über den Wissensstand der deutschen Schüler, der Nachhilfeunterricht organisiert werden soll. – Ich schicke ein Fax zu Tubachs nach Orinda, die uns treffen wollen, wenn sie im November in Deutschland sind.
    Eineinhalb Stunden bleiben mir für den Text über den Tag des Jahres 1965, den ich nachtragen muß aus dem Tagebuch von damals: Das 11. Plenum und meine Reaktion darauf etwas später. Die Emotionen von damals sind vollständig erloschen, ich wundere mich, wie radikal meine Einsichten doch schon waren; sicher wird man fragen, wieso ich dann in der DDR geblieben bin, wenn ich so scharf und klar sah. Außer meiner Schwierigkeit, Orte zu wechseln – wogegen mein Leben mit vielen Umzügen zu sprechen scheint –, war es eben einfach die Einsicht – oder Ansicht –: Drüben ist keine Alternative. »Kein Ort. Nirgends« – das war schon mein Grundgefühl von da an. Sehe ich das heute anders? Habe ich die Bundesrepublik damals zu kritisch gesehen? Ich glaube eigentlich nicht. Zwar heißt es heute, der durch den Sozialstaat gezähmte Kapitalismus sei ein anderer gewesen als der heutige Raubtierkapitalismus, aber er hat sich in seinem Wesen doch nicht geändert; nur daß er dieses Wesen jetzt ungebremst und unverhüllt zeigen kann.
    Mit Gerd spreche ich über einen möglichen Titel für die Tage der Jahre. Ich schlage vor: »Zeitachsen«, Gerd meint, darunter müßte stehen: Ein Tag im Jahr, und auf dem Umschlag müßten die vierzig Jahreszahlen mitlaufen. – Ich hege im stillen weiter Zweifel daran, ob ich dieses Buch herausgeben soll, ich sehe schon die abschätzige und empörte Kritik, aber nun mache ich das Manuskript erst mal druckfertig, bis zum Frühjahr, dann sehen wir weiter.
    Schnelles Essen: Pasta, Schinken, Olivenöl, Käse, Salat.
    Hingelegt, ein kleines Stück im »Freitag« gelesen, wenig geschlafen. Gerd steht früher auf und holt Anton und Ella Jewtuschenko ab. Ich sehe inzwischen die Post durch, wieimmer fast nur Einladungen zu Ausstellungen und anderen Events, der Vertrag für die Lesung vorgestern im Kulturhaus Oberschöneweide ist dabei (ich hatte »Wüstenfahrt« gelesen, und anschließend war in der Diskussion wieder fast nur über die Zeit um 1989 gesprochen worden, auch über den Aufruf »Für unser Land«, Frau Herzberg hatte einleitend auch über meine sogenannte IM -Tätigkeit gesprochen, ich hatte das Gefühl, die Leute waren damals stehengeblieben und suchten immer noch Trost und Bestätigung), die Frau von der Bundeszentrale für politische Bildung, die mir den Vertrag schickte – eine Westfrau natürlich –, schrieb dazu, sie hätte auch nicht gewußt, wie sie sich in der DDR verhalten hätte (das ist auch die Art Beschwichtigung, die ich nicht leiden kann, aber gut gemeint). – Eine Frau Pötter aus Wismar schreibt mir, in Wismar lebt ein Frl. Zerndt, jetzt fast hundertjährig, die in Landsberg Englisch- und Erdkundelehrerin an der Oberschule war, in die ich auch ging, und die von Frau Dr. Paucksch manchmal gefragt wurde, ob sie »der Christa« im Aufsatz schon wieder eine Eins geben solle … Ich erinnere mich dunkel,

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