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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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wieder wundert es mich, mit welchem Gleichmut die meisten Politiker diese Entwicklung hinnehmen, wie wenig sie erschrecken vor den Gefahren, die sie in sich birgt und die sich ja im Erfolg der Rechten bei den Wahlen in Brandenburg und Sachsen ankündigten. Da wird wieder mit dem Finger auf den Osten gezeigt – aber werden die Gründe für diese Malaise analysiert? O nein. Hier so wenig wie anderswo.
    Ein paar Nachrichten sehe ich noch im »Nachtjournal« und muß mich fragen, warum ich nicht endlich meinen Vorsatz ausführe, mich nicht mehr jeden Tag mit diesen Schreckensbildern zu konfrontieren. Es ist Mitternacht. Im Bett lese ich noch ziemlich lange den Anfang des Buches von Barbara Honigmann über ihre Mutter: »Ein Kapitel aus meinem Leben«. Es rührt mich an. Gerd, der es schon gelesen hat, sagt: Wieder ein Beleg dafür, in wieviel verschiedenen DDR en wir damals alle gelebt haben. – Und auch dafür, daß die Vergangenheit nicht tot ist.

Dienstag, 27. September 2005

Berlin
     
 
    Mitternacht. Wir sitzen noch am Fernseher und sehen den Costa-Gavras-Film »Der Stellvertreter« nach Hochhuths Stück. Ich achte genau darauf: Als es Mitternacht ist, fährt einer dieser Güterzüge durch das Bild, die leer von Auschwitz zurückkommen. Der Kampf des Gerstein um Gehör für sein schreckliches Wissen, die von heute aus vollkommen unverständlichen Ausflüchte seiner Umgebung, aber auch des Papstes, des amerikanischen Botschafters, jeder hat seine eigenen »guten« Gründe, die Nachrichten, die Gerstein übermittelt, entweder nicht zu glauben oder jedenfalls nicht an die Öffentlichkeit zu bringen. Gerstein, der bis zum Hauptsturmbannführer der SS aufsteigt und für die Lieferung des Zyklon B verantwortlich wird, wohl kleine Sabotagen und Verzögerungen bewirken kann, mehr aber auch nicht, während der junge Jesuit Riccardo sich einen Judenstern anheftet und mit auf den Transport nach Auschwitz geht. Gerstein, dem die Amerikaner seine Geschichte natürlich nicht glauben, erhängt sich in seiner Zelle. – Die immer wieder anstehende Frage, wie weit einer in einem verbrecherischen System bleiben darf, um »das Schlimmste zu verhindern«, wie weit einer seinen absoluten Maßstäben folgen soll, bis zur Selbstaufopferung. Deutlich wurde wieder das Problem, Verfolgungs- und KZ -Szenen darzustellen; Gavras hat es wahrscheinlich so »gut« wie möglich gemacht, und doch empfinde ich immer Unechtheit, Peinlichkeit. Ich denke, derartige »Stoffe« können imFilm eigentlich nur dokumentarisch gezeigt werden. Über dem Land, in dem Gerstein lebt, liegt eine düstere Atmosphäre, es ist ein Höllenland. Auch ich habe da gelebt, und ich sehe viele helle Erinnerungsbilder, die sich mir als Kind eingeprägt haben und die später von einem Wissen, das ich als Kind nicht hatte, überschattet wurden. Ich glaube, die meisten Deutschen wollten sich ihre »helle« Erinnerung nicht nehmen lassen und haben sich ihr Leben lang gegen diese allerdings sehr schmerzliche Überschattung gewehrt. Wieder denke ich, die Juden können eigentlich mit den Deutschen nicht mehr zusammenleben wollen.
    Nach eins bin ich im Bett, Gerd liest zum zweiten Mal »Zwielicht« von Werner Mittenzwei, ich habe es auch gelesen und so gut wie vollkommen wieder vergessen. So geht es mir jetzt mit allen Büchern, es ist zum Verzweifeln, ich sage: Warum liest man dann überhaupt noch, Gerd meint, etwas bleibt doch immer hängen. Das stimmt vielleicht am ehesten mit solchen Texten. Wie ich einen dann lese, in der Zeitschrift »Gehirn und Geist«: Über das Problem, das Neurowissenschaftler haben, wenn sie bei einem Probanden, der sich freiwillig für ihre Untersuchungen zur Verfügung gestellt hat, im Gehirn eine Anormalität feststellen: Sollen sie ihm das sagen? Einen Arzt einschalten? Man veranstaltet schon Kongresse über diese Frage. – Ich verstehe das Problem aus meiner jüngeren Erfahrung heraus: Als mir der Arzt bei der Ultraschalluntersuchung meiner inneren Organe sagte, irgend etwas sei da mit einem Lymphknoten, eine Ader verlaufe nicht da, wo sie verlaufen solle, das müsse mit einem zweiten bildgebenden Verfahren abgeklärt werden, es könne sich in nichts auflösen, aber er könne eben auch ein Karzinom nicht ausschließen – da brachte er mir für vier Wochen beträchtliche Unruhe ein, bis das andere Verfahren den Verdacht zerstreute.Und ich war dann so irritiert, daß ich einen dunklen Leberfleck auf der Haut mit schwarzem Verdacht belegte

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