Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
meinem letzten Besuch her, nach dem Unfall, sei anscheinend noch die Praxisgebühr offen. Ich sage, die zehn Euro habe ich in der Notaufnahme des Krankenhauses, in das die Feuerwehr mich gebracht hatte, bezahlt. – Ach so. Sie müsse sich erkundigen, ob es da nicht vielleicht eine neue Verordnung gebe, leider wechselten die auch mitten im Quartal. – Dann: Nein, das sei in Ordnung, ich müsse nicht doppelt bezahlen.
Mittagsschlaf, endlich. Das Bedürfnis danach ist jeden Tag sehr groß. Ich nehme die »Berliner Zeitung« mit ins Bett, die ich heute noch nicht lesen konnte. Schlagzeilen: Verluste für CDU und SPD . – Hannover verläßt Konferenz der Kultusminister. – KarstadtQuelle: Jetzt wird gehandelt. Der Konzern ist tief in den roten Zahlen und wird bei seiner Reorganisation tausende Arbeitsplätze streichen. – Österreichs letzter Kaiser wird seliggesprochen. – Auf der dritten Seite wird von einem»Unternehmer« berichtet, der jetzt verhaftet wurde, weil er Kopf einer Mafia-Bande gewesen sein soll, die ganz Neuruppin beherrscht. – Der israelische Geheimdient hat in Syrien einen der bekanntesten Hamas-Führer getötet. – Der Erfolg der Rechtsradikalen bei den jüngsten Wahlen in Sachsen und Brandenburg wird kommentiert. – Wirtschaftsminister Clement erwartet eine Angleichung des Lebensstandards in Ost und West bis 2019. – Ankara verbietet Folter und Selbstjustiz. – Italiens Regierung kritisiert Deutschlands Streben nach Sitz im Sicherheitsrat. – Chaotische Folgen des Hurrikans in Florida und Haiti. – »Bild am Sonntag« macht den Anfang: Wieder alte Rechtschreibung. (Ein Dauerbrenner: Die neue Rechtschreibung, ein Schildbürgerstreich, der sehr teuer ist.) – Frankreich trauert um Françoise Sagan. – Völler tritt nach 26 Tagen beim AS Rom als Trainer zurück. – Thomas Brussig hat einen neuen Wendezeit-Roman geschrieben: »Wie es leuchtet«. (Am Abend liest Gerd aus einer positiven Besprechung dieses Romans im »Freitag« vor, in der wieder erwähnt wird, daß er mich in seinem ersten Buch, »Helden wie wir«, lächerlich gemacht hat. Ich habe das Buch nie gelesen. Gerd äußert Unwillen darüber, daß Annette und Honza mit ihm befreundet sein können und auch Jana und Frank gut mit ihm stehen. Ich sage: Klar, wenn jemand über eines unserer Kinder so geschrieben hätte wie er über mich, würde ich keine Beziehungen mit ihm unterhalten. Aber daß er den nächsten Generationen näher ist als ich, als Autor, das kann ich schon verstehen, und warum sollten sie da auf mich Rücksicht nehmen.)
Deutschland und Polen planen eine gemeinsame Arbeitsgruppe, um Entschädigungsforderungen deutscher und polnischer Bürger im Gefolge des Zweiten Weltkriegs abzuwehren. – Für mich eine der wichtigsten Meldungen. Die Bestrebungen der »Preußischen Treuhand«, die Vertriebene vertritt und in deren Namen Rückgabe- und Entschädigungsforderungen stellt, haben mich entsetzt. Neulich, als wir mit Trageiser bei »Borchardt« aßen – unser Abschiedsessen –, kam mir von ihm auch eine rein juristische Betrachtungsweise dieses Vorgangs entgegen, auch ein Dauergefühl, als »Vertriebener« zurückgesetzt zu sein. War das in der DDR , wo es viel weniger Vermögensunterschiede gab als im Westen, weniger der Fall? Daß die Vertreibung, wie jede Katastrophe, traumatisch auf viele Menschen, besonders die Älteren, gewirkt hat, ist ganz unbestritten, und daß man dies anerkennen soll, auch. Das läßt sich nicht alles durch Einsicht in historische Zusammenhänge und Notwendigkeiten kompensieren, wie ich es ziemlich lange versucht habe. Aber ich kann und will nicht begreifen, daß man für einen erhofften persönlichen Nutzen die einigermaßen normalen Beziehungen zu Polen, die so eminent wichtig sind, in Frage stellt.
Schlafen, Lieblingsbeschäftigung, bis nach 16 Uhr.
Kaffee. Ein paar trockene Filinchen-Scheiben. Erst jetzt sage ich Gerd, daß heute »Tag des Jahres« ist. Ach so! sagt er und beginnt sofort nachzudenken, was ich an diesem Tag erlebe und aufzeichnen kann.
Dann erst Beginn dieser Aufzeichnungen. Also muß ich jetzt notieren, daß ich zwei, drei Stunden lang notiere: Überlagerung von Tätigkeit und Beschreibung. Die Schmerzen in der Sehnenscheide des linken Arms, die mich zuerst beunruhigten, lassen dabei sogar nach – anscheinend beginne ich mich nach dem langen Laptop-Schreiben im Sommer wieder an den Normal-Computer zu gewöhnen.
Kurz vor sieben drucke ich die
Weitere Kostenlose Bücher