Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Knoblauchgurke in die Hand, ich sitze am Küchentisch, betrachte bewundernd all die Pracht vom Markt um mich herum, esse meine Gurke und bin glücklich. Besser kann es einem Menschen nicht gehen.
Da ruft auch noch Tinka an: Sie ist erstaunlicherweise mal zu Hause, zurück von der Krim, wo sie und eine Freundin von OWEN für Frauen aus vieler Herren Länder ein Seminar gemacht haben, das sehr anstrengend und konfliktreich war, aber eben deshalb vielleicht eines der besten, sagt sie. Sie will morgen nachmittag »bei uns vorbeikommen«, mit Martin, später erneuter Anruf: Auch Anton wolle mitkommen und ein Stück Kuchen abfassen. Sie fahren am nächsten Tag mit einer Gruppe nach Israel, sie will ihrer Freundin Lidia dort zwei Bücher von mir mitbringen, und die »würde sich einen Kullerkeks freuen, wenn ich da meinen alten Otto reinkritzeln würde«. Wir bewerfen uns noch ein bißchen gegenseitig mit anstößigen Bemerkungen, dann erklären wir beide, wir müßten arbeiten und hätten keine Zeit für diesen Unsinn, und legen auf.
Während ich weiter am Schreibtisch sitze, ruft Ulla Berkéwicz an, aus Hanau: Sie wolle den 27. September nicht verstreichen lassen, ohne mich angerufen zu haben. Sie will also rein in den Text. Wir streiten uns, ob sie eine kleine oder eine große Hexe ist. Sie plädiert für »kleine«. Wir stehen auf vertrautem Fuß, noch vertrauter seit ihrem Besuch in Woserin, wo sie sich mir – uns – sehr öffnete. Sie habe sich ein paar Tage vom Verlag frei genommen, um einige anstehende Reden zu schreiben, und weil Unseld morgen Geburtstag gehabt hätte. Man denke immer, das sei doch ein Tag wie jeder andere, aber es sei eben doch ein etwas anderer Tag. Ich nehme mir vor, sie morgen anzurufen.
Die Minestra ist köstlich. Gerd hat extra, nach einem guten italienischen Kochbuch, ein sehr würziges Pesto dazu gemacht, mit viel Knoblauch, das wird über die Suppe gestreut, nebst Parmesan, und dazu besteht er auf einem »Trunk«: Campari / Soda. Gerd hat alles mit großer Lust zubereitet undfreut sich an meiner Begeisterung. Soll ich dir mal was sagen? sage ich. Ich habe dich lieb. – Das beruht auf Gegenseitigkeit, erwidert er trocken.
Ich konfrontiere ihn mit drei Fragen, die am Vormittag per Fax bei mir angekommen sind und die die Pariser Wochenzeitschrift »Courrier International« anläßlich ihres fünfzehnten Geburtstages fünfzehn »Persönlichkeiten« gestellt hat:
1.: Was war in Ihren Augen das wichtigste Ereignis in der Welt in den letzten fünfzehn Jahren? (von November 1990 bis heute – außer 11. September 2001?)
2.: Was war für Sie persönlich das wichtigste Ereignis in den letzten fünfzehn Jahren?
3.: Was wird in Ihren Augen das wichtigste Ereignis in den nächsten Jahren sein?
Zu Frage eins möchte Gerd den 11. September nennen, der ja aber ausdrücklich ausgenommen ist. Der Mauerfall ist noch nicht in diesem angegebenen Zeitraum, vielleicht ist der Irak-Krieg das wichtigste Ereignis, oder die Tatsache, daß Deutschland nicht daran teilnimmt. Jedenfalls etwas, was mit dem Konflikt der »christlichen« Kultur mit dem Islam zu tun hat. Aber ein einzelnes Ereignis läßt sich schwer nennen – auch in meinem persönlichen Leben nicht –, vielleicht die Krankheit von Benni im letzten Jahr und seine (hoffentlich) fortschreitende Genesung. Auch die Kampagnen gegen mich Anfang der Neunziger waren »wichtig«, aber sie sind nun schon so lange her, ich empfinde ihre Bedeutung nicht mehr so.
Auch hier würde ich eher verschiedene Ereignisse und Entwicklungen nennen als ein einzelnes Ereignis. Und in der Zukunft? Da rechne ich mit riesigen Konflikten zwischen Arm und Reich – in den einzelnen Ländern und international, zwischen armen und reichen Ländern. Die Konflikte mit illegalen Flüchtlingen und mit der zunehmenden Armut im Innern sind nur ein Vorspiel dazu. – Wir suchen positive »wichtigste Ereignisse«, finden sie nicht. Das andauernde wichtigste Ereignis in meinem Leben ist, daß es Gerd und diese Kinder und Enkel gibt. – Die Fragen schwelen den Tag über in mir weiter. Beantworten werde ich sie der Zeitschrift sicher nicht.
Eine halbe Stunde kann ich mich hinlegen, schlafe fest, stehe auf, bereite mich aufs Weggehen vor, sehe, daß ein Anruf auf dem Anrufbeantworter ist: Kammertöns. Er habe noch eine »klitzekleine« Frage, ich rufe zurück, er ist nicht da, erbitte seinen Anruf nach vier. Gehe los, mit Stock – anders kann ich gar nicht mehr laufen,
Weitere Kostenlose Bücher