Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Vorhofflimmern schon festgestellt war. Man liegt auf einer weichen Matratze, schließt die Augen, sie hockt sich im Lotossitz daneben und beschreibt mit ihren Händen Figuren über dem Körper des Liegenden, die die Energieströme, die aus ihren Händen kommen, auf die gewünschte Weise an die gewünschten Stellen leiten sollen. Das dauert etwa eine Dreiviertelstunde. Mir sagte sie, sie habe an meinem Herzen gearbeitet, es sei sehr intensiv gewesen, die Hände hätten ihr weh getan, so stark habe die Energie gewirkt. Sie habe mein Herz richtig massiert. Sie habe da Enge gesehen, auch so etwas wie Verkrampfung. Ich muß ihr sagen, daß das Vorhofflimmern leider nicht zurückgegangen ist. Wir verabreden einen neuen Termin.
Die »Heilerin« ist vierzig, eine nicht schöne, aber reizvolle, schmale, Frau. Die »Gabe« hat sich ihr während einer Meditation bei einer eigenen Krankheit gezeigt, sie hat sie an sich selber ausprobiert und allein weiterentwickelt. Es gebe doch so vieles um uns herum, was nicht materiell sei, aber doch vorhanden, die Physik komme dem doch auch immer näher – manches sei Materie, dasselbe könne die Form von Energie annehmen. Sie glaubt an eine Art Wiedergeburt, sie sehe bei ihren Klienten so oft Erscheinungen, die nicht aus ihrem jetzigen Leben stammten. Sie lehnt die Schulmedizin nicht ab, aber als Dauerbehandlung erscheint sie ihr zu grob. Woher sie diese Gabe der Energieübertragung habe, wisse sie nicht.
Mich haben solche Phänomene ja schon immer fasziniert, eigentlich seit der Vorstellung in Gedankenlesen und Hypnose, die Herr Wandrey bei meiner Konfirmation gab. Mein Herz will sie drei-, viermal behandeln.
C. ist inzwischen gekommen, sie glaubte uns bei der geplanten Kur und wollte unsere Blumen versorgen. Ich frage sie nach dem Stand ihrer Angelegenheiten: Sie hatte sich nach wenigen Monaten von dem Mann getrennt, den sie, kaum daß sie ihn einige Wochen kannte, mit fliegenden Fahnen geheiratet hatte und der sich bald als »betrügerischer Gewalttäter« entpuppte. Nun betreibt sie eine Schnell-Scheidung von ihm, ist dauernd mit der Polizei zugange, weil er die Wohnung demoliert und nicht ausziehen wollte, leider hat sie mit ihm gleich ein gemeinsames Konto eingerichtet usw. Sie berichtet mir von der neuen Wohnung, die sie zum Glück gefunden hat, ganz schön, nicht teuer, nicht mal weit von uns.
Ich rufe Maria Sommer an, mit der ich lange keinen Kontakt hatte und die ganz oben auf meiner Liste steht. Sie hat, wie ich es mir schon dachte, eine schwierige und schwer beschäftigte Zeit hinter sich: Richard Hey ist gestorben, einer ihrer ersten Autoren, sie hat ihn in den letzten Wochen oft besucht und mußte dann die Totenrede halten, das habe sie sehr mitgenommen. (Gerd guckt beim Mittagessen sofort im Lexikon nach, um die Titel aufzuspüren, die Hey geschrieben hat. Wir kennen keinen von ihnen und vermuten, er werde auch sonst schon zu Lebzeiten vergessen gewesen sein …) Wir beteuern uns gegenseitig, daß wir uns bald mal sehen müssen, und wollen uns anrufen. Ich bin froh, daß ich sie endlich erreicht habe.
Mittagessen. Es gibt dieses ganz vorschriftsmäßig nach dem französischen Kochbuch mit Madeirasoße gebratene Steak und gedünstetes gemischtes Gemüse dazu – ein wunderbares Essen. Im Küchenradio die üblichen Schreckensmeldungen: Wieder Tote im Irak durch amerikanische Luftangriffe. Wenn ich beinahe gewohnheitsmäßig sage: Was soll das werden!, erwidert Gerd: Die Amerikaner müssen dort ein neuesVietnam erleben. Berichtet wird über die Ungewißheit über den Zustand einiger der Geiseln, die von »aufständischen« oder kriminellen Banden gekidnappt wurden und über deren Ermordung noch nicht, wie bei vielen der anderen Geiseln, gesicherte Dokumente vorliegen: Zwei französische Journalisten, zwei italienische Mitarbeiterinnen einer Hilfsorganisation, ein Engländer, der Tony Blair per Video angefleht hat, etwas für ihn zu tun. Die jeweiligen Staatsoberhäupter bleiben hart: Mit Geiselnehmern dürfe man nicht verhandeln, sonst »sei die Jagd eröffnet«. Ich versuche, mich nicht zu sehr in die Lage der Angehörigen dieser armen Menschen zu versetzen: Man hat ja auf den Bildschirmen schon Enthauptungen der Geiseln sehen müssen. Innenpolitisch machen Korrespondenten sich lustig über die Manie aller Parteihäuptlinge, die gestrige Wahl in Nordrhein-Westfalen als Sieg für sich in Anspruch zu nehmen.
Ein Anruf von der Praxis meiner Hausärztin, Dr. Reich: Von
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