Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Große Koalition – darauf läuft nun die unentschieden ausgegangene Wahl hinaus. – Porsche übernimmt zwanzig Prozent der Volkswagenaktien. – Ein ehemaliger SPD -Stadtrat soll Willy Brandt bespitzelt haben. – Die Union will mit der SPD nur Koalitionsgespräche führen, wenn Merkel das Kanzleramt bekommt. – Polen hat bei den Wahlen einen kräftigen Ruck nach rechts getan. – Hurrikan »Rita« hat im Südosten der USA ganze Orte plattgewalzt. – Dies nur ein paar Überschriften aus dem Politikteil der Zeitung. Die anderen Teile lasse ich unberücksichtigt.
Honza ruft an, ich hatte ihm am Abend vorher auf Band gesprochen, er ist mitten in der aufreibenden Korrektur seiner Fahnen zu dem endlich erscheinenden Buch (»Schornstein«) und überprüft die Korrekturen seiner Korrektorin – das ist nicht so leicht für ihn, weil er ja in deutsch schreibt, das er zwar sehr gut beherrscht, das ihm aber nicht immer vom Gefühl her die richtige Antwort gibt. Ich spreche mit ihm überdie Seite, die er mir gefaxt hatte, und habe sogar noch einen zusätzlichen Fehler gefunden: Er sagt »der Pflaster« anstatt »das Pflaster«.
Ich mache mir noch ein wenig in der Wohnung zu schaffen, blicke bei Gerd aus dem Fenster, er steht unten mit der Hausverwalterin, Frau V., in lebhaftem Gespräch. Es gefällt mir, wie die beiden dort stehen, sie hat ihren schwarzen Hund bei sich, der an seiner roten Leine zerrt, das Licht fällt durch das noch dichte und grüne Blätterdach von der Seite auf sie, ich finde diesen Augenblick kostbar und will ihn mir merken. (Später erfahre ich, daß in den nächsten Tagen unter uns ein Architekt einziehen wird, der auch das Souterrain, in dem bis jetzt die Seniorenstiftung war, als Büro gemietet hat, und daß oben in die leere Wohnung ein junges Künstlerpaar kommen wird. Also wäre das Haus wieder komplett.)
Ich setze mich an den Schreibtisch, um den Ablauf der letzten Tage in meinem Haupt-Kalender nachzutragen, das ist mir wichtig, und ich merke wieder, daß man schon vergißt, was man vor drei Tagen gemacht hat, wenn man es nicht brav jeden Tag notiert.
Dann schalte ich den Computer an und setze mich an diesen Text. Eigentlich sollte ich mein Manuskript, »Stadt der Engel«, endlich aus dem Koffer holen, in dem ich es vor zwei Wochen aus Woserin hergebracht habe: Inzwischen liegt es brach. Nach einer unfruchtbaren Pause, bedingt durch meine diversen Krankheiten und Beschwerden in der ersten Jahreshälfte, nach einer höflich-harschen Kritik von G. an der vorliegenden Fassung, nachdem ich mich in Woserin gut erholt hatte (bis auf eine erschrecklich zunehmende und mich ziemlich lahmlegende Knie-Arthrose), nachdem ich warten mußte, bis sich mir ein neuer Zugang zu dem Text eröffnete, fing der Stoff wieder an, in mir zu arbeiten, ich hoffe, einen neuen Tongefunden zu haben, eine souveränere Erzählhaltung, zu der ich anscheinend diese vielen Jahre gebraucht habe und die Hunderte von Manuskriptseiten, die schon daliegen. Hier in Berlin gab es nur Abhaltungen, Arztbesuche, Post, nicht zuletzt das Interview mit der » ZEIT «, das mich sehr viel Zeit gekostet hat. Wieder erfuhr ich, daß ich ungeheuer viel redigieren muß, daß ich die laxere Sprechweise meist nicht stehenlassen kann, daß mir die besseren Einfälle eben erst nachträglich kommen. Blöd, damit seine Zeit zu verbringen!
Eine junge Frau ruft an – ich kann es nicht lassen, das Telefon aufzunehmen! –, sie habe sich ein Buch von mir neu schicken lassen, weil ihr altes, in dem mein Autogramm war, ins Wasser gefallen war: Ob sie mir nun das neue zum Signieren schicken darf. Wie ich diese Angewohnheit hasse, mir Bücher unangekündigt zum Signieren zu schicken! Diese junge Frau, die sehr nett zu sein scheint, fragt wenigstens an, und ich kann sie auf meine Lesung in Marbach vertrösten, die ihr sehr gelegen kommt: Sie wohnt in Stuttgart.
Gerd, zurück vom Markt, wedelt mit einem großen duftenden Strauß frischer Minze, die er, nebst anderen frischen Kräutern, bei seinem Kräutermann gekauft hat – der freue sich immer, wenn er komme, ebenso wie die Kartoffelfrau, der er gleich noch andere Gemüse abgekauft hat – man könne doch nicht nur Kartoffeln bei ihr kaufen und wegen Gemüse an einen anderen Stand gehen! – Doch, sage ich, das kann man. – Er sagt: Nein. – Ich: Du bist eben ein anständiger Käufer. Er macht sich sofort daran, zum Mittag eine Minestra vorzubereiten. Mir gibt er eine herrlich knackige
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