Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
und mich überwand, zur Hautärztin damit zu gehen, die mich vollkommen beruhigte. Das war die Zeit, da mir der Gedanke an den Tod nah und andauernd gegenwärtig war. – Um halb zwei mache ich das Licht aus.
Wenn ich nachts zur Toilette gehe, muß ich, ehe ich wieder einschlafe, an das Interview denken, das ich der » ZEIT « gegeben habe. Formulierungen gehen mir durch den Kopf: Sind sie stichhaltig? Zu weitgehend? Enthüllen sie zuviel von meinen Gedanken, von mir selbst? Ist das Ganze zu politisch? Sie (Stephan Lebert und Bruno Kammertöns) wollten unbedingt am Anfang ein paar Sätze darüber haben, wie ich den Ausgang der Wahlen sehe. Ich sagte: Ich sehe darin eine getreue Widerspiegelung des Zustands, in dem das Land sich befindet: Matt gesetzt. Und charakterisiere am Ende diese Gesellschaft als eine Gesellschaft in der Krise.
Nachts frage ich mich, wie ich das in solchen Fällen immer tue: Hatte ich nötig, dieses Interview zu geben? Aus meiner Deckung herauszutreten? – Mir fällt ein, was Lebert am Vortag zu mir gesagt hatte: Er glaube, ich hätte dadurch, daß ich meine verschiedenen Lebensebenen zusammengebracht habe, eine erstaunliche Lebenskunst entwickelt. Das verblüffte mich. Kann man das als Außenstehender vom Ende her so sehen? Vielleicht, wenn man bestimmte Zwischenstücke meines Lebens in der DDR nicht kennt.
Ich erwache aus einem Traum: Ich soll für Kurt Stern ein Zeugnis abgeben. Es muß in der DDR sein. Ich weiß, daß es sich um Kurt Stern handelt, obwohl sein Oberkopf durch eine merkwürdige, oben spitz zulaufende Kappe bedeckt ist. Ich frage mich, wieso ich für Kurt Stern zeugen soll, er ist doch ein alter bewährter Genosse, es müßte eher umgekehrtsein. Mit diesem Gefühl wache ich auf. Ich soll demnächst ein Vorwort zu den Tagebuchaufzeichnungen Kurt Sterns in den ersten Kriegsmonaten in Frankreich schreiben, als er mit vielen anderen Deutschen, auch Antifaschisten, interniert war. Vielleicht drückt der Traum auch mein Unbehagen darüber aus, daß ich jetzt immer öfter als »Zeitzeugin« angefordert werde, weil wir zu denen gehören, die bestimmte Ereignisse noch miterlebt, bestimmte Personen noch gekannt haben. Ich wehre mich dagegen, aber den Tatbestand kann ich nicht leugnen.
Möchte gern früh noch ein Stündchen schlafen, es gelingt nicht, ich stehe um acht Uhr auf. Es verspricht wieder ein sehr schöner Tag zu werden, wir haben schon über eine Woche das herrlichste Spätsommerwetter, während an der amerikanischen Südküste nach dem Hurrikan »Katrina« nun der Hurrikan »Rita« seine Verwüstungen angerichtet hat – nicht ganz so schlimme wie befürchtet, höre ich im Radio. Ich höre, daß man sich bei VW geeinigt hat, den neuen Geländewagen doch in Deutschland zu bauen und nicht in Portugal, die Betriebsleitung konnte die Gewerkschaft mit dieser Drohung erpressen, anscheinend haben sie also Zugeständnisse gemacht. Aber Samsung will eine große Anzahl von Stellen in Deutschland streichen. Später äußert sich Bärbel Höhn von den Grünen zum Abgang von Joschka Fischer aus der Parteipolitik und zur Bewerbung von vier Grünenpolitikern für den Fraktionsvorsitz. In New Orleans dürfen Menschen aus bestimmten, inzwischen vom Wasser freien Stadtteilen in die Stadt zurück. Die Börsen haben auf den Zusammenschluß von VW und Porsche mit Einbußen bei Porsche-Aktien reagiert.
Vor dem Frühstück kurzer Wortwechsel mit Gerd: Soll ich Rührei aus nur einem Eigelb und zwei Eiweiß machen, ich finde, zuwenig Eigelb, er findet: Gerade gut! Also macheich es. Ich esse eine dunkle Schnitte dazu, geriebenen Apfel und Flocken. Meine übliche Handvoll Tabletten. Tee.
Die Zeitung zeigt auf der Titelseite eine Amerikanerin, die von zwei Polizisten weggetragen wird: Sie hat vor dem Weißen Haus eine Sitzblockade gemacht. Ihr Sohn ist im Irak getötet worden. In der linken Spalte unter der Überschrift »Undiplomatische Mahnerin« ein Bild von Marianne Birthler, die im Eifer des (Wahl-)Gefechts eine etwas willkürliche »Schätzung« abgegeben hatte, wie viele ehemalige IM in der Bundestagsfraktion der Linkspartei sein würden, die von zwei auf über fünfzig Abgeordnete aufgestiegen ist. Sie mußte sich dann korrigieren. Manche, schreibt die Zeitung, sehen in ihr einen »Racheengel«, andere eine unbequeme Mahnerin. Ich denke, mit ihrem hochsensiblen Material könnte sie etwas sensibler umgehen und nicht ihrer Abneigung freien Lauf lassen. Die Schlagzeile: Blaupause für
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