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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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heranmachen? – Die Frage ist bis jetzt nicht beantwortet.
    Ich las viel – den »Zauberberg« ebenso wie den Newcomer Uwe Tellkamp mit dem »Turm«, den ich überbewertet fand. Ich sah jeden Abend fast bis Mitternacht fern. Ich hatte das deutliche Gefühl, daß ich die Zeit ungenutzt verstreichen ließ und daß dies ein Vergehen war. Teilweise war diese »Faulheit« oder Trägheit schon länger vor meinem Krankenhausaufenthalt ausgebrochen, und sie hält auch jetzt noch an, ist also grundsätzlicherer Natur: eine Hemmung gegen »das Schreiben«, die sich zusammensetzt aus der Einsicht in die Vergeblichkeit dieses Tuns und aus Zweifel in meine eigene Fähigkeit, diese neue Herausforderung noch zu meistern.
    Einmal fragte meine Stationsärztin, der ich »Leibhaftig« gegeben hatte, ob ich bei meiner Aussage über »Vergeblichkeit« bleibe, die ich da auf einer Seite erörtere. Ja, ich bleibe dabei – wenn man das erkannt hat, geht es doch eigentlich darum, trotzdem weiterzumachen, in der Einsicht, daß der Sinn des Lebens das Leben ist, das man mit Kraft und Engagement führen sollte, auch wenn ihm keine Dauer beschieden ist …
    Einmal, etwa nach zwei Dritteln der Zeit, passierte etwas Eigenartiges: Ich hörte (in mir?) eine Stimme, die deutlich sagte: Jetzt wirst du gesund. Das war um Mitternacht. Ich glaubte der Stimme sofort, und ich rief Tinka an, weil ich glaubte, daß sie noch am ehesten wach sein könnte. War sie aber nicht. Ich sprach auf ihren Anrufbeantworter. Am nächsten Morgen rief sie ganz aufgeregt an: Was ich denn mitten in der Nacht gewollt hätte. Ich erinnerte mich zunächst nicht an meinen Anruf, dann fiel er mir wieder ein. – Kann sein, daß da meine Genesung einsetzte.
    Ich bekam die vielfältigen Reflexe von G.s Geburtstagmit – er wurde 80, und ich konnte nicht dabeisein. Und er war unglaublich tätig, mußte im Grunde seine Feier selbst vorbereiten, ich bekam Angst, daß er eines Tages umfallen würde. Aber er überstand alles. Vielleicht hat er sich mit seiner Aktivität auf seine Weise über das heikle Datum hinweggeholfen.
    Ferner gab es die schreckliche Terrorwelle in Bombay und das Auffliegen der unglaublichen internationalen (»globalen«) Finanzkrise. Erneut ein Epochenbruch: Diesmal ist es der Kapitalismus, der seinen Offenbarungseid leisten muß. Ich glaube, in den Wirtschafts- und Politikerkreisen regiert das blanke Entsetzen, das sie vor dem gemeinen Konsumentenvolk noch zu verbergen suchen. Und das gemeine Volk weigert sich, die Veränderung zur Kenntnis zu nehmen, und versucht weiterzumachen wie bisher: Also reichlich Weihnachtseinkauf, als wäre nichts gewesen.
    Das alles nahm ich gewissenhaft zur Kenntnis, aber es berührte mich nur am Rande, überhaupt wurde mir bewußt, daß ich derartige innere Teilnahme an Konflikten wie früher nicht mehr kenne, einfach, weil die heutige (politische) Lage mich nicht mehr in Konflikte stürzt: Ich fühle mich nicht mehr verantwortlich für das, was geschieht.
    Ich hatte keine Lust auf irgendwelche Einflüsse von außen – wollte keine Besucher, möglichst keine Telefonate, schrieb keine einzige Zeile an irgend jemanden. (Jetzt höre ich, ich sei »verändert« gewesen.)
    Vor den sich wiederholenden Operationen hatte ich Angst – besonders vor den Narkosen. Ich überstand sie ohne das nicht so seltene Zwischenstadium von Verwirrtheit, brauchte aber anscheinend viel Energie, die Folgen zu verarbeiten. Als auch noch eine Lungenentzündung bei mir auftrat, stürzte diese Diagnose meine Familie anscheinend in Angst und Schrecken – mich weniger, ich hatte merkwürdigerweise nicht das Gefühl, daß ich daran sterben könnte, sondern lag ziemlich emotionslos an den vielen Apparaten in der Intensivstation und bewunderte die Schwestern wegen ihrer Kompetenz.
    Später dann, wieder auf »Normalstation« und in der Geriatrie bei Dr. Steinhagen-Thiessen, als man mich »mobilisieren« wollte, das heißt, aus dem Bett holte, zu physiotherapeutischen Übungen zwang, da setzte ich diesem Zwang einen inneren Widerstand entgegen und war wütend auf die Physiotherapeuten – am liebsten wäre ich weiter im Bett liegengeblieben und hätte meine Ruhe gehabt, war froh, wenn die Übungen ausfielen. Diese Trägheit ist mir geblieben, immer noch mache ich zu wenig Training, um die Muskeln meines rechten Beins zu stärken. (Das kenne ich von mir aus der Zeit der Hüftgelenks-Operationen.)
    Im Ganzen kam mir diese Zeit – der ganze Sommer –

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