Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
bis zum 18. November, das sind fünf Monate – »Wundheilungsstörung« nennt man das, und es befällt ca. 1 Prozent der Patienten …
Dies schreibe ich nun am 13. Dezember auf, möchte den Tag des Jahres doch nicht ganz übergehen, will versuchen, rückblickend etwas darüber zu schreiben, wie ich mich in diesem letzten halben Jahr »befunden« habe. Wird nicht einfach sein. Die Zeit im Krankenhaus kommt mir wie ein ereignisloser, ungegliederter Zeitraum vor, die verschiedenen Krankenzimmer in den verschiedenen Krankenhäusern kann ich in der Erinnerung kaum unterscheiden – ich war im Immanuel-Krankenhaus, in der Charité (dem Bettenturm!), zwischendurch 3 Tage in d. Reha-Klinik Hoppegarten, im Virchow-Klinikum, im Evangelischen Geriatrie-Zentrum. Sechs (oder sieben?) Operationen, jeweils mit voller Narkose, gegen die ich eine Aversion entwickelte und etwas wie Angst – weil ich wußte und hörte, daß viele, gerade ältere Leute nach einer Narkose verwirrt sind und es zum Teil auch bleiben (zu mir kamen in den nächsten Tagen Studenten, die mich abfragten: nach Namen, Aufenthaltsort, Telefonnummer, Datum, Station usw. – was ich alles ohne Verzögerung beantworten konnte).
Wenn ich zurückdenke, sehe ich mich immer wieder auf der Trage liegen, wie ich von Pflegern die Gänge lang zu dem jeweiligen Operationsraum geschoben werde, die ich allerdings kaum auseinanderhalten kann. Nur daß mir alle diese unterirdischen, kalten, grauen, von künstlichem Licht beleuchteten Räume für die Operateure und ihr Team als ungute Arbeitsplätze erschienen. Sie selbst empfanden das anscheinend nicht so, auch die Kälte machte ihnen kaum zu schaffen – sie würden bei jeder OP ja einen Adrenalin-Schub erleben. Die verschiedenen Aufwachräume. Einmal sehr gefroren. Leichte Übelkeit. Danach meistens totale Appetitlosigkeit, konnte also abnehmen. Gerd bringt mir Suppen.
Da hole ich schon Einzelheiten aus der ungegliederten Zeit hervor, die mir übrigens als ein heller, überbelichteter Zeitraum erscheint. Kann eine Erinnerung an die einzelnen Schwestern und Pfleger kaum heraufrufen – obwohl die mir jeweils wichtig waren und auch Individualität bekamen. Beobachtete, wie man als Patient von ihnen abhängig wurde und wie man auch bis zum gewissen Grad sein Schamgefühl verliert.
Auch das Interesse an äußeren Ereignissen schwindet: In meine Krankenhaus-Zeit fielen die heute so genannte »Finanzkrise« – im Grunde der Zusammenbruch der kapitalistischen Weltordnung – und die Terrorangriffe in Bombay, Indien; ich nahm alles genau zur Kenntnis, las jeden Tag Zeitung, staunteund begriff sehr wohl die Bedeutung dieser Ereignisse, doch konnte ich sie nicht auf mich beziehen: Wenn ich mein Gefühl in Worte fassen sollte, müßte ich wohl sagen: Das alles betrifft mich nicht mehr. Meine Zeit ist vorbei. Ich sehe den Ereignissen zu. Mit 80 ist man nicht mehr dabei. Dies ist nicht mehr meine Zeit.
Mit anderen Worten: Dieser Krankheitssommer hat mir einen gehörigen Altersschub verpaßt. Den 80. Geburtstag fürchte ich als die Grenze zwischen Alter und Todesnähe. Auf den Gängen begegnete ich anderen Patienten, an Krücken wie ich, die mir noch älter und hilfloser vorkamen, bis ich mich zur Ordnung rief und mir sagte: Die sind genauso alt wie ich, ich will es nur nicht wahrhaben.
An Arbeit habe ich die ganze Zeit über nicht gedacht, obwohl mein Stadt-der-Engel-Manuskript sich vor mir auftürmt wie ein unübersteigbarer Berg. Ich schrieb nicht eine einzige Zeile – nicht mal eine Karte an irgend jemanden. Die Ärztin meinte, mein Gehirn sei damit beschäftigt, die Narkosen zu verarbeiten. Annette meint, ich hätte auf »Autopilot« gestellt.
Vieles ließ mich gleichgültig. Das einzige, was mich interessierte, war alles, was meine Familie betraf. Mir wurde bewußt: Dies ist der feste, dauerhafte Bestandteil meines Lebens – erst danach kommt alles, was mit meiner Arbeit zusammenhängt. Übrigens habe ich hin und wieder in einem meiner Bücher gelesen, die ich mir hatte mitbringen lassen, um sie zu verschenken: »Leibhaftig«, »Der Worte Adernetz«, »Christa T.«. Ich las die Texte wie zum erstenmal, erinnerte mich nicht, daß ich sie geschrieben hatte, und fand sie zu meinem Erstaunen »nicht schlecht«. Eigentlich, dachte ich, habe ich doch alles gesagt, was ich zu sagen hatte. Könnte ich mein »Werk« nicht als abgeschlossen betrachten? Muß ich michnoch an diese Schwerarbeit mit »Stadt der Engel«
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