Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
»flacher« vor, wohl weil meine Emotionen keine Spitzen nach oben oder nach unten zeigten. Ich glaube, dies ist ein altersbedingter Zustand, hat nichts unbedingt mit einer Krankheit zu tun. Ich träumte viel und sehr plastisch – und habe alles vergessen. Bei der Lektüre mußte ich darauf achten, daß sie nicht etwa zu aufregend war, ich war ungeheuer empfindlich, also kamen die meisten Krimis nicht in Frage. Ich las Thomas Manns »Zauberberg« und (kursorisch) Uwe Tellkamps »Der Turm« – ein überschätztes Buch über ein Dresdener Milieu vor der Wende. Sah jede Nacht bis Mitternacht fern.
    Mir war bewußt, daß diese Zeit ein Einschnitt war. Öfter war (und bin) ich nicht in besonders guter seelischer Verfassung. Der Gedanke an den Tod ist allgegenwärtig. Und das Bewußtsein, daß die Jahre jetzt auf ihn zulaufen. Der Antrieb zu neuer Arbeit ist gering, über allem die Frage: Wozu?

Sonntag, 27. September 2009

Woserin
     
 
    In der ersten halben Stunde nach Mitternacht lese ich noch in dem bei Faber und Faber erschienenen Buch »Wie viele Leben lebt der Mensch« von Walter Markov (»Eine Autobiographie aus dem Nachlaß«). Markov lehrte als Historiker und Gesellschaftswissenschaftler in Leipzig, als ich dort studierte, und gehörte neben Ernst Bloch, Hans Mayer und Robert Schulz zu den kritischen Marxisten. Ich hatte erwartet, in seinem Buch eine Schilderung der Auseinandersetzungen an unserer Fakultät zu finden, von denen ich selbst damals kaum berührt war. Aber zu meiner Enttäuschung ist das Buch recht lax geschrieben und geht auf die ernsten Probleme kaum ein: Zum Beispiel warum er, Markov, Anfang der fünfziger Jahre aus der Partei ausgeschlossen wird und wie genau die Folgen für ihn waren – das wird ziemlich oberflächlich behandelt – wollte der Autor, als er diese Passagen schrieb, immer noch mit Kritik an der Partei zurückhalten? – Dafür schildert er ausführlich, wie er zu seiner Frau kommt, und die Geburt ihrer (fünf) Kinder, und allerdings die Personalpolitik an der Universität mit einer Fülle mir heute unbekannter Namen.
    Ich konnte nicht einschlafen, nahm dann, widerstrebend, um eins eine halbe Stilnox. (Sie machen abhängig! sagen die Ärzte, aber was soll schon passieren, wenn man mit achtzig ein bißchen abhängig wird?) Wahrscheinlich ist auch Autosuggestion dabei, wenn ich nach dieser halben Tablette tatsächlich schlafen kann. Dann werde ich, wie heute, um siebenwach und kämpfe darum, noch mal einschlafen zu können, was meistens nicht gelingt. Dann sind die ein, zwei Stunden bis zum Aufstehen quälend, depressionsnah, von bedrückenden Gedanken besetzt – der Tod, immer wieder der Tod –, denen gegenüber auch die Aufzählung alles Positiven, aus dem mein Leben ja eigentlich besteht, nicht viel ausrichten kann. Ich versuche es mit Mantras zum Einschlafen, sie zeigen keine Wirkung. Stunden, vor denen ich mich fürchte.
    Kurz vor neun stand ich auf, wie immer mit üblen Kreuzschmerzen, die erst bei Bewegung etwas nachlassen, aber mich doch meist am schmerzfreien Laufen hindern. Gerd schon in der Küche, fertig angezogen. Dusche, Haare waschen, dabei in Deutschlandradio Kultur eine Sendung hören, »Allein gegen alle«, die sie von einer Uraltsendung her wiederholen, die aber immer noch Spaß macht.
    Nachrichten. Heute können also um die sechzig Millionen Bundesbürger ihr neues Parlament wählen. Wir haben durch Briefwahl als Einzelkandidaten Wolfgang Thierse ( SPD ) gewählt und als Partei Die Linke – zögernd natürlich, aber die SPD zeigt sich zu breiig und unfähig, auf die Linke zuzugehen, was die einzige Möglichkeit wäre, einen Block »links von der Mitte« zu bilden. Sie braucht also eine starke linke Opposition.
    Im Radio wird Iris Berben interviewt, die in einem neuen Achtundsechziger-Film (»Es kommt der Tag«) die Hauptrolle spielt: Eine Frau, die 1968 Aktivistin war, ihr Kind weggab, ihre Identität veränderte und jetzt als Erwachsene mit ihrer wiederaufgetauchten Tochter konfrontiert wird. (Das Trauma der Bundesrepublik, an dem wir nicht teilhaben, wie sie an unseren Traumata nicht teilhaben – das verhindert schon das viel heraufbeschworene »Zusammenwachsen«.)
    Nachrichten. Der Iran hat zwei neue Kurzstreckenraketenabgeschossen. – In den Philippinen macht ein furchtbarer Tropensturm mit Regenmassen ungeheure Überschwemmungen. Tote und Verletzte, viele Menschen obdachlos.
    Frühstück. Brot, Wurst. Medikamente, da der Husten, der mich

Weitere Kostenlose Bücher