Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Galerien ausstellen. Drittens sind fast immer Spendenaufrufe dabei, heute für die verhungernden Kinder Afrikas, natürlich mit Überweisungsschein, den ich ausfülle. Dabei denke ich: Wenn die verdammten Regierungen auf der Welt ihre Rüstungsausgaben einstellen oder wenigstens um die Hälfte vermindern würden, könnte der Hunger auf der Welt beseitigt werden.
Eine Karte von Nuria aus Spanien, ein verlockendes Foto »der Köstlichkeiten, die uns hier festhalten«. »Nur die Seele rutscht gelegentlich in den Keller«, schreibt sie, »aber das mediterrane Licht erhellt sogar tiefe Tiefen.« Ich weiß, daß sie manchmal depressiv ist und daß sie das möglichst wenig zeigt, um so mehr erstaunt und beunruhigt mich dieser Satz. Auch eine der Frauen, mit der ich gerne noch enger befreundet wäre. Sie hat am gleichen Tag Geburtstag wie ich.
Ich blättere im »Freitag«: Ein Nachruf auf André Gorz. Vor wenigen Tagen las ich eine ausführliche Rezension seines gerade erschienenen schmalen Buches: Ein Brief an D., also ein Liebesbrief an seine Frau, mit der er seit über fünfzig Jahren zusammenlebte. Beide konnten sich nicht vorstellen, den oder die andere zu überleben – sie war seit Jahren schwer krank. Dann kam, vorgestern, die Nachricht, sie hätten sich beide gemeinsam das Leben genommen. Das traf mich. Er, der radikal und, wie ich glaube, richtig gedacht hat, wird als scheu und schüchtern beschrieben, er habe ganz leise gesprochen. In einem anderen Nachruf wird angeregt, man solle doch seine Bücher, die zu Unrecht ziemlich vergessen seien, jetzt wieder lesen: Sie seien von großer Voraussicht auf das Schicksal der Arbeitsgesellschaft und des Kapitalismus.
Gerd kommt wie immer schwer bepackt vom Einkauf, er habe »Spezereien« mitgebracht: Körner, die man auf Salate streuen könne, Sternanis, Kurkuma, Chili-Pulver und noch einige andere Tüten und Döschen. Er steuert auf das Mittagessen zu: Zu dem Gemüsegeschnetzelten werden die Nudeln aufgewärmt, die vom letzten Mal im Kühlschrank stehen. Es schmeckt.
Ich blättere in den neuen Katalogen, um halb drei lege ich mich hin: Erleichtert, und wie immer mittags sehr müde. Lese noch in dem Buch von Lizzie Doron. Ich schlafe dann. Wache, wie manchmal jetzt, mit einem Schrei auf. Höre in der Küche den Rest der Büchersendung: Von Jurek Becker ist ein Band mit Aufsätzen erschienen. Ich höre seine Stimme, und manche Begegnungen steigen in mir auf. Er war ein integrer Mensch. Ich höre, sein Vater habe nach dem Buch »Jakob der Lügner« lange nicht mit ihm gesprochen: Die dummen Deutschen kannst du über das Ghetto täuschen, habe er gesagt. Mich nicht. Ich war dabei.
Wir trinken im Wohnzimmer Tee, Gerd hat ein Stück »Kalten Hund« mitgebracht, jenes Gebäck, das aus Schichten von Keksen und Schokolade in Kokosfett besteht, das ich immer zu den Kindergeburtstagen gemacht habe, ich erkenne den Geschmack, esse aber nur ein winziges Stück, es ist sehr fett.
Dann packe ich die Geschenke für die Tinka-Familie ein, in der ja alle innerhalb von zehn Tagen Geburtstag haben. Tinka hatte sich ihre Geschenke aus einem Katalog selbst ausgesucht, Martin bekommt den obligatorischen Pullover, Anton ein Buch über Tokio, wohin es ihn, den Japanologen, sicher mal ziehen wird, und Helene einen großen afrikanischen Beutel, beide Kinder dazu einen Obolus, weil sie was zum Anziehen brauchen.
Dann nehme ich die wöchentliche Messung meines INR -Wertes vor, immer ein bißchen gespannt, aber er ist in Ordnung: 2,6. Man hat mir gesagt, wegen des Herzschrittmachers müsse ich immer den Blutverdünner Falithrom nehmen, also auch immer die INR -Werte messen: Verhütung von Thrombosen. Das Alter fordert seinen Tribut.
Noch eine Verrichtung, ehe ich wieder an den Computer gehen kann: Ich fülle das Formular aus, mit dem ich von dem Stromanbieter Vattenfall zu Lichtblick wechsle, der Strom nur aus regenerativen Quellen erzeugt: Wasser, Biomasse, Sonnenenergie, Windkraft – ohne Kohle und ohne Atomkraft.
Bis achtzehn Uhr mache ich Korrekturen auf den letzten Seiten von »Stadt der Engel«, ich sehe die Straßen von Pacific Palisades, die wir rauf- und runterfuhren, das Netzwerk, das die einzelnen Punkte – die Häuser der Emigranten – miteinander verknüpfte. Eine einmalige Anhäufung von Geist und Kultur.
Um neunzehn Uhr, wie meistens, die ersten Abendnachrichten im Fernsehen: Die Befreiung des deutschen Ingenieurs, der seit Wochen in Afghanistan in Geiselhaft ist, ist
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