Ein Tag in Barcelona (German Edition)
schaute, in Wahrheit bloß selbst sah. Oder genauer: wie ich mich als Zwölfjährigen auf dem Zehnmeter-Brett in einem Kölner Hallenbad stehen sah, blass, klein und schmal, und unter mir in gefühlt einem Kilometer Entfernung verschwommen meine Klasse, die in die Hände klatscht und meinen Namen ruft. Auch Marie, meine erste große Liebe, ist da. Sie lächelt mir verunsichert zu, weil sie als Einzige weiß, dass ich die Badehose gestrichen voll habe, und bedeutet mir, dass ich sie fester zuschnüren sollte, um sie beim Sprung nicht zu verlieren.
Und jetzt dieses Déjà-vu in Barcelona, das so etwas war wie ein neuerlicher Gang zum Schafott. Oder zum Galgen. Zum fünften Galgen, wenn man so will. Denn vor Urzeiten – bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein – hatte die Stadt vier Galgen. An jeder Einfallsstraße stand einer, damit alle, noch ehe sie die Stadt betraten, genau wussten, was für ein Gesetz in Barcelona über allen anderen Gesetzen stand: Qui la fa, la paga. Wer etwas anstellt, zahlt dafür. Meistens ließen sie übrigens die Verbrecher noch ein paar Tage hängen, auf dass die Abschreckung besser funktioniere, und wenn die Tat besonders abscheulich war, wurde der Übeltäter gleich noch gevierteilt. 1832 haben sie das dann abgeschafft, die Stadtoberen fanden, dass es dezentere Wege gab, die Todesstrafe anzuwenden.
Mit solchen Gedanken stieg ich also den meterhohen Galgen empor, kam mit zitternden Beinen oben an und war bereit, Buße zu tun: Wer den Macker markiert, wird mit Sprüngen nicht unter zehn Metern bestraft.
Die Hose brauchte ich diesmal nicht mehr zuzuschnüren. Das hatten die Tapas erledigt. Ich warf noch einen Blick auf das goldene Häusermeer, dann stürzte ich mich, ehe mein Kreislauf den Dienst versagen konnte, in den Abgrund.
Ich wollte noch winken, doch in der Sekunde freien Falls nahm ich bloß die ganze geliebte Stadt in mich auf, stellte mir vor, dass ich in sie, in ihren Schoß, hineinspringe, und sah plötzlich wie im Rausch den anhimmelnden Blick meiner Freundin, die sofort ins Wasser eintauchte, »mein Held!« quiekte und mich unter stürmischen Küssen wieder in die Tiefe des Beckens zog. Diesen heroischen Augenblick, dieses überwältigende Glücksgefühl werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Die Erinnerung daran half mir sogar darüber hinweg, dass das Mädchen mir einige Zeit später bei einem Streit an den Kopf warf, ich hätte in Wahrheit lächerlich ausgesehen. Tatsächlich war ich bei dem »schissigen Fußsprung mit angstverzerrter Fratze«, wie sie sich so nett ausdrückte, so dämlich aufgekommen, dass ich mir das Lippenbändchen aufgerissen hatte.
»Patético, Dani, patético«, sagte sie – »einfach armselig. Schwimm mit mir synchron, du Held.«
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie gern ich mit der Dame aus Sabadell La Casita Blanca ausgekundschaftet hätte: das Weiße Häuschen. Und noch genauer erinnere ich mich an ihre dezente Abfuhr, als ich sie dorthin führen wollte.
Es war nach einem Besuch des Parc Güell, dem vom berühmten Architekten Antoni Gaudí i Cornet erschaffenen Park, der zum UNESCO -Welterbe gehört. Ich hatte mir vorher im Stadtplan die Route zurechtgelegt: Wir fuhren eine der steilen, ewig langen Rolltreppen hinunter und sahen die Massen mit ihren Kameras, Sonnenbrillen und Schirmmützen an uns vorbei auf der anderen Seite zu Gaudís Drachenskulpturen im Parc Güell hochfahren.
Kurz hinter der Metrohaltestelle Vallcarca kommt man an zwei etwas einsam dastehenden Jugendstilgebäuden vorbei, eines davon mit reich verziertem Mosaiktürmchen. Arme Fischer benutzten ursprünglich zerbrochene Kacheln, um ihre Hütten gegen die Kälte zu isolieren, was Gaudí und andere Architekten des Modernismo, wie der Jugendstil hier genannt wird, dazu inspirierte, aus diesen kaputten azulejos aufwendige Mosaikbilder zu erschaffen und die Häuserfassaden mit ihnen zu verzieren.
Meine schöne Begleitung blieb prompt davor hängen, mich interessierte es nicht die Bohne. Ich wollte in das unscheinbare Haus nebenan, die »Casita Blanca« eben, von dem mir alle möglichen Leute erzählt hatten.
Anfangs hielt ich das weiße Häuschen für ein Bordell für die oberen Zehntausend, wo einem ungeschriebenen Gesetz zufolge betuchte Väter ihren Söhnen die erste Nummer spendierten. Ich hatte keinen Grund, an dieser Version zu zweifeln: Der generationenübergreifende Besuch eines Freudenhauses war eine ziemlich verbreitete Sitte, von der jeder ältere
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