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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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auf sie zu, ohne jedoch Herman eines einzigen Blickes zu würdigen.
    »Was tust du hier, Charlotte? Du weißt, daß du dir bei mir einen Passierschein holen mußt, ehe du hochgehst.«
    »Ich hatte es eilig, man hat mich gerufen.«
    Charlotte setzte zu einer ungeduldigen Geste an, führte sie jedoch nicht zu Ende, fast als habe sie vergessen, was sie ausgelöst hatte. Die Empfangsdame seufzte. Etwas überrascht merkte Herman, daß sie schmerzlich angespannt war, ihre Nasenflügel waren seltsam geweitet.
    »Wenn du Zeit hast«, sagte sie, »dann komm mich doch zu Hause besuchen, ja?«
    »Ja, ja, mal sehen«, meinte Charlotte mit einem kurzen, förmlichen Lächeln.
    Sie holte ihren am Eingang abgestellten Regenschirm und reichte ihn Herman, der sich daraufhin wieder an die Besonderheit der Gegend von September bis Mai erinnerte. Es regnete jetzt heftig, die Gehwege der Hauptstraße waren schlammig, das Tageslicht so schwach, obwohl es auf Mittag zuging,daß Herman sich ohne die Hilfe der Straßenlaternen, die angingen, als er mit Charlotte aus dem Rathaus trat, kaum zurechtgefunden hätte. Auf seine Frage antwortete Charlotte, die Hauptstraße bleibe in den acht oder neun Monaten der kalten Jahreszeit Tag und Nacht beleuchtet. Herman fühlte sich plötzlich niedergeschlagen und hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Wie am Morgen war ihm, als sei sein Körper bis ins Innerste feucht und gedemütigt, verkrampft, am Verfaulen. Er zog den Kopf ein, beugte sich leicht vor, starrte auf seine Füße, und Charlotte neben ihm genauso, die Fäuste tief in den Hosentaschen. Aber das Relais war nicht weit weg. Seine Vorderfront, Backsteine und Fachwerk, ging auf den Platz. Herman hatte im Lauf der vergangenen Jahre, wenn er ins Dorf hinunterkam und einen zerstreuten Blick auf die Fenster des Relais warf, oft gedacht, daß er nur ungern eine Nacht in diesem Hotel verbringen würde, so schäbig sah es aus. Und nun führte Charlotte ihn in den kleinen Speisesaal und rief ihre Mutter, die sofort angelaufen kam, etwas außer Atem, eingezwängt in ihre geblümte Bluse.
    »Das ist ein Freund von Alfred, er soll Zimmer zwölf bekommen«, sagte Charlotte mit ihrer ruhigen Stimme.
    »Hat er Gepäck?« erwiderte die Mutter. »Alfreds Freunde sind uns willkommen.«
    Dabei kniff sie ihre kleinen Augen zusammen und setzte eine frivole Miene auf, die Herman nicht recht zu deuten wußte. Unvermittelt streckte sie ihm eine schlaffe, warme Hand entgegen.
    »Ich habe im Moment nichts dabei«, sagte Herman verlegen.
    Sie verbeugte sich demütig und zuvorkommend. Sie trug Jeans, wie ihre Tochter, und ein Paar Espadrilles mit fleckiger Spitze.
    »Er wird auch Vollpension nehmen.«
    »Wieviel wird das kosten?« fragte Herman, ohne seine Besorgnis zu verhehlen.
    »Hundertfünfzig für das Zimmer, zweihundert für die drei Mahlzeiten, plus zwanzig Franc Steuern und Abgaben, das ergibt dreihundertsiebzig alles inbegriffen.«
    Die Mutter bediente sich eines noch höflicheren Tons als zuvor, ehrerbietig und herzlich, und blieb leicht vorgebeugt stehen, die Hände über dem Bauch gefaltet, ohne Herman anzusehen.
    »Das ist viel zuviel für mich«, erwiderte er scharf.
    Verärgert ließ er den Blick durch den kleinen Raum wandern und sah nichts, was solche Forderungen rechtfertigen würde. Alles war gewöhnlich und angegraut. Doch dann ergab er sich plötzlich, da weder Charlotte noch ihre Mutter antworteten und letztere ihre geneigte Haltung beibehielt. Er kam sich ungehobelt vor, errötete ein wenig. Im übrigen mußte Herman sich eingestehen, daß er, nun da der Vorsteher für ihn beschlossen hatte, er würde in Vollpension hier wohnen, im Moment weder genug Mut noch ein hinreichend klares Bild von seiner Lage hatte, um auf eigene Verantwortung anders zu handeln. Er seufzte und willigte ein. Die Mutter bat Charlotte, ihn auf sein Zimmer zu führen. Sie selbst richtete sich erst wieder auf, als Herman sich schon ein paar Meter entfernt hatte.
    Charlotte macht nicht so viel Getue, dachte er erleichtert.
    Vor allem verwirrten ihn, auf unangenehme Weise, die schmutzigen Espadrilles, die so schlecht mit derartigen Höflichkeitsbezeigungen zusammenpaßten.

    3 Das Zimmer war winzig und ging auf den Hof hinaus. Charlotte klopfte leicht gegen eine Wand und bestätigte, der Vorsteher, Alfred, wohne nebenan in Zimmer elf, als wolle sie ihn beruhigen, so sagte sich Herman, indem sie ihm versicherte, daß alles seine Ordnung hatte. Dann ließ sie ihn allein, und es

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