Ein Tag zu lang
jemals auch nur bewegend gewesen? Da wurde der Gedanke an Rose plötzlich sehr abstrakt, er wurde verdrängt von der tiefen Lust daran, die Sympathie seiner Tischnachbarinnen auf sich zu ziehen und ihren noch unbekannten, dunklen Geist zu fesseln.
Als er geendet hatte, warf er einen raschen Blick auf den Vorsteher. Alfred hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und betrachtete ihn. Herman konnte nicht erkennen, ob er seinen Vorstoß guthieß. Doch er fühlte sich erneut peinlich berührt von dem eigenartigen, nicht sonderlich angenehmen Eindruck, daß von Alfreds Gesicht, diesem fetten, strengen, scharfblickenden Pascha-Gesicht, ein Schwall von zäher, zuckersüßer Zuneigung ausging, sobald Herman sich ihm zuwandte, und sei es noch so kurz.
»Sie Armer«, bemerkte mit ruhiger, klangvoller Stimme seine Tischnachbarin mit den vielen Kugelschreibern.
Sie lächelte ihm liebenswürdig zu, deutete im Sitzen eine Art Verneigung an und begann dann wieder zu essen, nachdem sie, wie alle anderen Gäste, darin innegehalten hatte, um Herman zuzuhören. Dann standen alle auf und gingen auf Herman zu, um ihm mit ein paar förmlichen, mitfühlenden Worten dieHand zu drücken. Die Frauen beugten sich vor, bis ihr Dutt seine Stirn streifte, die drei oder vier männlichen Kollegen tippten sich mit zwei Fingern an die Schläfe und schlugen dabei kaum hörbar die Hacken zusammen.
»Ja, Sie Armer«, sagte auch Métilde, und Charlotte wiederholte: »Sie Armer«, immer im gleichen leichten, lässigen Ton.
Man lächelte ihm von allen Ecken und Enden des Tisches zu, mit äußerster Gutwilligkeit und einem ganz mondänen, aber dennoch reizenden Ausdruck von Bedauern. Und Herman lächelte etwas ratlos zurück, da er nicht wußte, wie er all diese Anteilnahme nicht zumindest ansatzweise erwidern sollte. Die Mahlzeit wurde fortgesetzt, das Gespräch wandte sich beruflichen Problemen zu. Niemand kam auf Hermans leidvolle Geschichte zurück. Métilde redete leise auf Charlotte ein, und Herman konnte nur erahnen, daß sie ihr Vorwürfe machte, auf die Charlotte lediglich mit Kopfnicken antwortete, mit allem einverstanden und unerschütterlich gelassen. Herman hätte gerne noch weiter von seiner Angelegenheit gesprochen und durchaus Interesse daran gehabt, all diesen ihm wohlgesinnten Leuten ein paar Fragen zu stellen, wenn es auch nur im geringsten danach ausgesehen hätte, als würde man sich erinnern, was er gerade erzählt hatte und wie ernst die geschilderte Lage war (doch dies war sichtlich nicht der Fall). Man behandelte ihn wie einen vollkommen Fremden, den man nicht danach fragen konnte, was er wohl über die Digitalisierung der Katasterpläne denke, und dem man folglich nichts zu sagen hatte.
Herman wußte sich nicht mehr zu helfen und beugte sich zum Vorsteher hinüber.
»Und meine Angelegenheit? Ist die schon vergessen? Sie haben keinerlei Vermutungen geäußert, nichts, was mir weiterhelfen könnte.«
»Warum sollte Ihre Angelegenheit wichtiger sein als alles übrige?« flüsterte Alfred erstaunt. »Ich glaube, Sie überschätzen sie, oh, vielleicht wird das Gespräch darauf zurückkommen, aber nun ja, es gibt noch andere Fragen, die nicht minder interessant sind, das Rathaus wurde gerade renoviert, alles ist neu und modern, wie Sie gesehen haben. Beruhigen Sie sich, lieber Freund, haben Sie Geduld.«
Er legte Herman seine Hand aufs Knie und drückte es etwas zu fest. Verdrossen hörte Herman auf zu essen. Ein Gefühl von Einsamkeit schnürte ihm die Kehle zu. Er konnte nicht umhin, Alfred noch einmal zu fragen: »Aber wo können sie denn nur sein? Meine Frau, mein Sohn …«
»Ach, wir werden schon sehen.«
Alfred zuckte mit den Achseln und vertilgte große Rindfleischhappen. Doch seine Milde gegenüber Herman wirkte unerschöpflich. Er berührte ihn häufig mit dem Ellenbogen, mit dem Fuß, scheinbar unabsichtlich, und bald achtete Herman nicht mehr darauf. Er bot dem Vorsteher sogar seinen Teller an, um ihn leerzuessen, worauf Alfred mit seinen gierigen, zärtlichen, schlauen kleinen Augen zwischen Herman und dem Teller hin- und herblickte und eifrig annahm. Es traf sich, daß der Nachtisch ihm an diesem Tag nicht zusagte. Alfred stand auf, klatschte in die Hände und verkündete, es sei Zeit, zurück ins Büro zu gehen. Sofort standen alle auf, ohne den Nachtisch anzurühren. Man stellte sich beflissen schweigend in einer Reihe auf, Alfred an der Spitze, nahm sich an der Tür Regenmantel und Schirm und ging dann rasch
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