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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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zur Arbeit kommen.«
    Ringsum erklang zustimmendes Gemurmel. Die Kollegen, überwiegend Frauen, behielten zum Essen die dunkelblaue Kostümjacke an, in der Herman sie im Rathaus gesehen hatte, manche hatten sogar ihren Kugelschreiber noch im Dutt stecken und sahen dadurch aus, als seien sie auch im Speisesaal des Relais bei der Arbeit, was Herman leicht einschüchterte. Seine Tischnachbarin, eine ältere Frau, hatte gleich ein Dutzend Kugelschreiber in ihrer Brusttasche stecken und zwei im Haar. Als Herman sich setzte, schob sie ihren Stuhl zurück, verbeugte sich und wünschte ihm besten Appetit. Der Vorsteher legte seine Hand auf Hermans Hand.
    »Welche Freude, Sie wiederzusehen! Von jetzt an werden wir immer beieinander sein, sowohl hier als auch oben. Sind Sie zufrieden?«
    »In meinem Zimmer beobachtet mich jemand durchs Fenster«, raunte Herman ihm zu und zog seine Hand zurück.
    »Ja, wahrscheinlich die Mutter der Metzgerin. Kümmern Sie sich nicht um sie, sie ist nicht bösartig. Im übrigen verbringt sie ihr Leben an ihrem Fensterchen, darum …«
    »Aber es gefällt mir überhaupt nicht, beobachtet zu werden«, flüsterte Herman gereizt.
    »Nun, das ist hier eben so, da kann man nichts machen, draußen oder zu Hause, immer schaut einem jemand zu, na und? Sie dürfen sich nicht verstecken, habe ich Ihnen gesagt, sondern im Gegenteil, Sie müssen sich mit jenem Bestreben, ganz im hiesigen Leben aufzugehen, das ich Ihnen verordnet habe, den Blicken aussetzen. Seien Sie vorbildlich und zeigen Sie sich, behalten Sie nur nichts für sich! Ja, man soll Sie sehen, mit Ihnen reden, Sie einladen! Sie haben doch Ihre Zimmertür nicht abgeschlossen?«
    »Doch, warum nicht?«
    »Nein, sehr schlecht!«
    Der Vorsteher verzog das Gesicht, beinahe böse.
    »Geben Sie mir Ihren Schlüssel.«
    Widerstrebend reichte Herman ihm diesen. Der Vorsteher legte ihn in Charlottes Hand, sagte ihr etwas ins Ohr, und Charlotte verließ den Tisch, ungerührt, leicht schlurfend, wie es ihre Art war und auch die ihrer Mutter in ihren Espadrilles, die gerade mit einer großen Schüssel voll Rohkost aus der Küche kam, stets leicht vorgebeugt, auf jene gezierte, überfreundliche, wenn auch durchaus anmutige Art, die Herman zwei Stunden zuvor an ihr bemerkt hatte.
    »Charlotte wird Ihre Tür aufmachen«, flüsterte Alfred. »Schließen Sie sie nie wieder ab, man würde sich fragen, was Sie verbergen, und das wäre das Ende all Ihrer Bemühungen, Vertrauen zu wecken.«
    »Wer wird es sich einfallen lassen nachzuprüfen, ob sie offen ist?«
    »Oh, alle, die anderen Gäste, unsere Tischgenossen, all die Damen, Métilde vielleicht, jeder hier kann einen Vorwand finden, einmal hochzugehen, wenn Sie nicht da sind, und Ihrem Zimmer aus Neugier einen kleinen Besuch abzustatten.«
    Glänzend gelaunt lachte der Vorsteher und klopfte Herman unter dem Tisch aufs Knie. Doch dessen Ärger war verflogen, sobald er den Vornamen der Empfangsdame gehört hatte. Er warf ihr einen ergriffenen Blick zu. Da lächelte Métilde ihn mit einem Ausdruck von echter Zuneigung an.
    Ja, du wirst mir helfen, dachte Herman, und dann …
    Er war geschmeichelt, glücklich, und in seinem Überschwang hätte er am liebsten mit allen und jedem geredet, sich ausgesprochen, um bemitleidet und geschätzt zu werden. Als Charlotte zurückkam und sich wieder setzte, beugte er sich zu ihr und zu Métilde hinüber und begann mit lauter, klarer Stimme, um von allen drei Tischen gehört zu werden, ausführlich zu erzählen, was seiner Familie zugestoßen war, wie er bei der Polizei abgewiesen wurde, wie er zuerst vorgehabt hatte, den Bürgermeister aufzusuchen. Er beobachtete dabei das Gesicht der beiden jungen Frauen, das sie ihm ehrerbietig zuwandten, mit leicht zusammengekniffenen Augen und aufmerksamer Stirn. Eine unbändige Freude erfüllte ihn, deren sich zu schämen er in diesem Augenblick, da er von Rose und ihrem kleinen Jungen sprach, völlig vergaß. Ihm war, als habe noch niemand ihm je eine so beständige, so höfliche und freundschaftliche Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Alle anderen ringsum waren verstummt. Charlottes Mutter, regungslos, vorgebeugt, hielt die Schüssel an ihren Bauch gedrückt und sah aus, als würde sie beten, während sie Hermans Worten andächtig lauschte. Ein wohlwollendes kleines Lächeln zog Métildes Mundwinkel zart nach oben. Hermanfrohlockte über seine erschütternde Wirkung: Hatte er jemals auf irgend jemanden erschütternd gewirkt, war er

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