Ein Tag zu lang
kamihm vor, als gehe sie nach nebenan, ins Zimmer des Vorstehers. Sie ließ sich offenbar aufs Bett fallen, denn es knarrte und ächzte, und er mußte feststellen, daß alle Geräusche aus dem Nebenzimmer deutlich zu hören waren, ja daß sie sich sogar auf Anhieb deuten ließen. Charlotte murmelte etwas, schien ihm. Sie sang vor sich hin. Ihr Fuß tippte im Takt auf den Boden. Herman stand dumm mitten im Zimmer und lauschte eine ganze Weile, gespalten zwischen dem Ärger, so schlecht untergebracht zu sein, und der unbestimmten, sanften Freude, die ihm das Wissen um Charlottes Nähe gegen seinen Willen bereitete.
Denn sie wird mir helfen, sagte er sich immer wieder vor. Je weniger sie sich entfernt, desto besser ist es für meine Angelegenheit. Was könnte ihr in ihrer Position entgehen?
»Mittagessen gibt es um ein Uhr«, rief Charlotte und klopfte auf ihrer Seite dreimal leicht gegen die Wand.
Dann verließ sie das Zimmer elf, ohne abzuschließen, wie ihm auffiel. Er ging an sein winziges Fenster, das von dicken Sprossen ganz verdunkelt war. Er öffnete es unter Mühen, und sofort regnete es herein. Unten war nicht einmal ein Hof, eher ein offener Lichtschacht, in dem die Mülltonnen standen. Doch das Zimmer lag im obersten Stockwerk, und Hermankonnte über die Schieferdächer mit ihren großen Parabolantennen blicken und dahinter auf den Hügel, der jetzt im Nebel verschwamm. Die Fassade gegenüber, die Rückseite der Metzgerei, war auf Hermans Höhe von einem einzigen Fenster unterbrochen. Er bemerkte ein Gesicht, das ihn durch die Scheibe beobachtete, wahrscheinlich das einer alten Frau. Als sie merkte, daß er sie seinerseits anschaute, wackelte sie zum Gruß mehrmals mit dem Kopf und lächelte ihn eindringlich an. Voller Unbehagen schloß er sein Fenster wieder, und er sah durch die Sprossen hindurch, daß der Blick der Frau starr auf sein Zimmer gerichtet blieb.
Er setzte sich aufs Bett und versuchte darüber nachzudenken, wie er weiter vorgehen sollte. Obwohl er sich bemühte, mit allem den Ereignissen angemessenen Mitgefühl an Rose und das Kind zu denken, driftete sein Geist orientierungslos ab, und wenn er bei irgendeiner Betrachtung verweilte, so bezog sich diese öfter auf den Vorsteher, Charlotte oder die Empfangsdame als auf Rose oder den Kleinen, über die er sich nichts anderes zu sagen wußte als etwas schroff: Was für eine schreckliche Geschichte! Dann beschuldigte er die üppig geblümte Tapete, mit der Wände und Decke beklebt waren, ihn abzulenken. Alles in diesem Zimmer mißfiel ihm und stieß ihn ab, der Bettüberwurf aus Chenille, das Schränkchen und derTisch aus Resopal, der Teppichboden. Er hatte immer in stilvollen Umgebungen gelebt und war Derartiges nicht gewohnt. Er bekam keine Luft, konnte es nicht mehr aushalten, und da die Alte ihn weiter belauerte, verließ er trotz seiner Müdigkeit das Zimmer, schloß seine Tür ab und ging in den Speisesaal hinunter. Es war noch nicht eins, doch die drei großen Tische waren schon voll besetzt. Er hatte das peinliche Gefühl, daß man auf ihn wartete, und als der Vorsteher, der am Ende des mittleren Tisches saß, ihn beim Namen rief und mit ausladenden, zufriedenen Gesten herbeiwinkte, ging Herman rasch zu ihm hinüber, voller Ärger auf sich selbst, obwohl er eigentlich nicht einmal spät dran war. Ein Platz zur Rechten des Vorstehers war für ihn reserviert, Charlotte gegenüber. Und die Empfangsdame war ebenfalls da, gleich neben ihr.
»Sie essen hier zu Mittag?« rief Herman unwillkürlich aus, völlig verdutzt.
»Jeden Tag.«
Sie zeigte lächelnd auf die beiden anderen Tische.
»Alle Rathausangestellten essen doch im Relais zu Mittag. Das ist im übrigen Vorschrift.«
»Und der Bürgermeister?«
»Oh nein, der Bürgermeister nicht.«
Sie lachte rundheraus, ebenso wie alle ihre Kollegen, die Hermans Frage gehört hatten.
»Warum ist es Vorschrift, im Relais zu Mittag zu essen?« fragte er, um sein Ungeschick wettzumachen.
Sie dachte nach, etwas ratlos. Schließlich zuckte sie mit den Achseln, die anderen blieben stumm, sie wußten offensichtlich nicht, was sie antworten sollten. Herman war plötzlich verlegen, es kam ihm vor, als sei sie verstimmt, nicht etwa weil sie dabei ertappt worden war, etwas nicht zu wissen, sondern vielmehr weil die Höflichkeit von ihr verlangt hätte, eine befriedigende Antwort zu liefern.
»Vielleicht«, meinte sie liebenswürdig, »will man sichergehen, daß wir um zwei Uhr nicht zu spät zurück
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