Ein Tag zu lang
sich seine Miene, er sah jetzt beinahe bösartig aus. Er war ein großer junger Mann mit einem hübschen, harten Gesicht, so eigensinnig, entschlossen und nervös, wie Charlotte gelassen und wunschlos wirkte. Obgleich er Herman mißfiel, fühlte er sich von dieser Art borniertem Willen, von diesen zusammengepreßten Kiefern amüsiert und angezogen. Also, was wollte Gilbert? Nichts anderes als mit Herman Bekanntschaft schließen, da sie ja nun Nachbarn waren. Tatsächlich wohnte Gilbert in Zimmer dreizehn – er schlug leicht gegen die Wand an der Kopfseite des Bettes –, direkt dahinter. Im übrigen hoffe er sehr, wenn Herman einmal Zeit habe, ihn auf einen längeren Besuch zu empfangen (aber konnte man es überhaupt wagen, fragte sich Herman unbehaglich, einem so offensichtlich heißblütigen jungen Mann abzuschlagen, ihm alle Zeit zu widmen, die er wollte?), würde er ihn beraten und über die Möglichkeiten informieren, die für ihn, Gilbert, bestünden, in Paris im höheren Handel gutbezahlte Arbeit zu finden.
»Ich bitte Sie, nicht mehr von Paris zu sprechen«, sagte Herman leise und drehte sich unwillkürlich zum Fenster um.
»Ja, ja, ich weiß, Ihre Geschichte, Ihre Angelegenheit!«
Gilbert machte eine ausladende, wegwerfende Geste. Er wußte Bescheid, na und? Was wiedergefunden werden soll, findet sich wieder, und was verloren, vergessen werden soll, das wird niemand je wieder aufspüren. Herman würde schon sehen, wie es sich mit seinem Fall verhielt, er würde es schnell verstehen, und es war sinnlos, sich zu grämen oder den schlauen Strategen zu spielen.
Herman runzelte die Stirn, verschränkte die Arme. Doch er war so müde, daß er nicht antwortete. Dann verwandelten sich Gilberts Gesicht und Benehmen auf einmal. Er lächelte, setzte eine liebenswürdige Miene auf, ging leicht in die Knie, und sein Oberkörper neigte sich Herman auf eine bezaubernde, lässige Art zu. Eine lange Strähne feinen, fast weißen Haars glitt ihm in die Stirn. Er werde ein Doppel organisieren, meinte er, und seine Stimme klang plötzlich sanft, mit Herman als seinem Partner gegen Lemaître und jemanden aus L., wahrscheinlich einen Freund von letzterem, das müsse man noch sehen. Es würde in vielerlei Hinsicht interessant werden.
Herman wandte ein, er habe seit vielen Jahren nicht mehr gespielt. Und die Aussicht auf ein Tennisspiel, so unwahrscheinlich sie auch war, verstärkte seine Müdigkeit noch. Gilbert hatte nichts von einem Schmeichler – doch wie er sich jetzt gab, so betörend … Es waren die hier üblichen Umgangsformen, die ihn so erscheinen ließen, denn er war ansonsten nicht sonderlich höflich. Er erweckte in Herman den Eindruck einer ungeschliffenen, bedrohlichen Arglosigkeit, der nicht zu widerstehen ihm seltsam angenehm war, auch wenn er solch naive Verführungsversuche noch vor kurzem einfach verachtet hätte, ja vielleicht hätte er sie nicht einmal als solche erkannt, hätte sie weder gesehen noch gespürt.
»Ich war schon einmal in Paris«, sagte Gilbert, »aber ich hatte kein Geld, um länger zu bleiben.«
Er vertraute Herman an, er zähle auf den Landrat, Lemaître, der ihm auf irgendeine Art zu einem sorgenfreien und möglichst glanzvollen Leben in Paris verhelfen sollte. Er zähle jetzt auch auf Herman. Ob Herman daran zweifle, daß er sein Freund werden würde? Gilbert versicherte lächelnd, er werde Herman schon dazu bringen, ihn zu schätzen.
»Ja, wir werden sehen«, murmelte Herman, der drauf und dran war, auf seinem Stuhl einzuschlafen.
Ihm schien, als neige sich sein Gegenüber ihm noch weiter zu, herzlich und eigennützig, das blasse, bartlose Gesicht zuckend von all den berechnenden, schlauen Gedanken in seinem Geist, der jetzt so hartnäckig mit Herman beschäftigt war, daß dies mit Sicherheit, wie Herman halb im Traum dachte, noch lästig werden würde. Er würde versuchen müssen, zurück in Paris zu sein, bevor man es sich hier in den Kopf setzte, Gefälligkeiten von ihm zu verlangen, zu denen er nicht bereit wäre, und gleichzeitig zusehen, daß ihm hier alle bei der Lösung seiner Angelegenheit halfen. Er durfte also fortan niemanden verstimmen.
4 Er mußte drei oder vier Stunden am Stück geschlafen haben, denn es dämmerte, als er erwachte. Von seinem dunklen Zimmer aus sah er, daß das Fenster der Alten gegenüber grell erleuchtet war, doch es war kein Gesicht zu entdecken. Kaum hatte er dies freudig verzeichnet, tauchte die Alte schon wieder auf, als hätte sie
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