Ein Tag zu lang
und mit eingezogenem Kopf hinaus. Nur Charlotte blieb zurück.
»Dieser Alfred hat Autorität«, bemerkte Herman.
»Er ist der Personalchef«, sagte Charlotte, als erkläre dies alles. Sie stand bald auf, um ihrer Mutter beim Abräumen zu helfen. Da Herman nichts zu tun hatte, ging er hoch in sein Zimmer, und er war enttäuscht, daß er sich Charlotte nicht hatte nähern können, doch die Anwesenheit der Mutter, auch wenn diese unaufdringlich und auf eine Herman noch nicht ganz klare Art nachsichtig war, störte ihn. Zweifelloshätte die Mutter mit ihrem freundlichen Lächeln es so eingerichtet, daß sie in einer Ecke des Speisesaals allein geblieben wären. Doch Herman hatte vor, später noch mit ihr über den Preis seiner Vollpension zu verhandeln. Vorher wollte er ihre etwas unterwürfige Zuvorkommenheit nicht ausnutzen, denn diese mußte wohl den Gästen vorbehalten sein, dachte er, die sie für begütert hielt. Doch das Verlangen, mit Charlotte zu reden, quälte ihn und verursachte ihm sogar eine Art Schwindel. Und er, der jede Zudringlichkeit immer gehaßt hatte, sah sich Charlotte am Ellbogen nehmen, sein Gesicht auf ihres zubewegen, sie ein bißchen schütteln, um sie zu überzeugen. Er war sich sicher, sie wäre nicht weiter überrascht. Die sanftmütige Ergebenheit, die er vorhersah, die er bereits in ihren unbewegten Zügen las, versetzte ihm schmerzhafte Stiche, während er die Treppe hinaufging, und machte ihn zugleich nervös und froh. Er mußte sich beherrschen, um nicht sofort wieder hinunterzugehen, Charlotte zu packen und jenen gefügigen, von Bedauern und Erstaunen freien Ausdruck auf ihrem Gesicht erscheinen zu lassen, der ihm so rätselhaft war.
Dieses Mädchen ist träge und schwerfällig, sagte er sich, wie könnte sie mir helfen? Sie muß jedoch sicher siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt sein. Ist sie vielleicht zurückgeblieben? Ich bin das nicht gewohnt, ich bin diese Art von Beziehungen überhaupt nicht gewohnt.
Er war ihr gegenüber, so schien ihm, zu unendlicher Macht und Grausamkeit fähig, die ihn niemand, nein, niemand je zuvor hatte ahnen lassen.
In seinem Zimmer traf er auf einen jungen Mann, der zwischen Bett und Schrank hin- und herging und einen ungeduldigen kleinen Seufzer ausstieß, als Herman hereinkam. Von plötzlicher Müdigkeit übermannt, ließ Herman sich auf den Stuhl fallen. Er saß mit dem Rücken zum Fenster, doch er hatte Zeit gehabt, durch den Regen hindurch das aufmerksame, lächelnde Gesicht der Alten gegenüber zu erblicken, welches jetzt so fest an die Scheibe gedrückt war, daß ihre Nase ganz verzerrt aussah. Matt und zerstreut hörte er dem jungen Mann zu, der sich breitbeinig vor ihm aufbaute, als habe er Angst, Herman könnte weglaufen, und sich lebhaft vorstellte. Wer er war? Nun, Gilbert, der jüngere Bruder von Charlotte, derjenige welcher, wie Herman vielleicht bekannt sei, jede Woche gegen den Landrat Tennis spiele, er, Gilbert, der einzige Bewohner des Dorfes, der mit einem Tennisschläger umzugehen wisse, was der Grund dafür sei, warum er und kein anderer das Glück hatte, jeden Samstag in das dreißig Kilometer entfernte L. zu fahren, wo sein Spielpartner wohnte, um sich in allerFreundschaft mit ihm zu messen, zwei Stunden lang, das ganze Jahr über – und dieser wöchentliche Anlaß sei auch der Grund (und daran könne Herman ermessen, welche Hoffnungen man hier auf seinen Umgang setze), warum seine Eltern, die Inhaber des Relais, ihm ein Auto gekauft hatten, einen knallroten kleinen Peugeot 205 Turbo, um ihm zu erlauben, im eigenen Wagen nach L. zu fahren, obwohl der Landrat, Lemaître, sein Spielpartner, sogar angeboten hatte, ihn jeden Samstag von L. aus abholen zu lassen, so viel lag ihm an Gilbert für sein wöchentliches Spiel. Ob er, Herman, Tennis spiele? Herman hatte in seiner Jugend gespielt, seitdem nie wieder. Und jetzt gerade war er buchstäblich erschöpft, wie gerädert. Gilbert wußte, daß Herman Pariser war – tatsächlich war dies der Hauptgrund seines Besuchs, daß Herman ihm etwas mehr darüber erzählte, denn er war an diesem Umstand aus guten Gründen höchst interessiert.
Verstimmt hielt sich Herman einen Finger vor den Mund.
»Vergessen wir, daß ich Pariser bin«, flüsterte er. »Jedenfalls bin ich es im Moment nicht mehr, und wann ich Paris wiedersehen werde, das kann ich Ihnen noch nicht sagen.«
»Oh nein, das zu vergessen kommt nicht in Frage!« rief Gilbert aus.
Mit einem Schlag verfinsterte
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