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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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Zimmer mit ihm«, sagte Herman, »er hat dich einfach zu sich genommen.«
    Aber Charlotte wollte von diesen sprachlichen Feinheiten nichts wissen. Sie zuckte mit den Schultern, und ihr etwas müdes Gesicht wurde noch ausdrucksloser. Ohne Verlegenheit wartete sie, daß Herman zu einem anderen Thema überging oder verstummte, und auch sie war, ohne daß sie es beschlossen hätte oder auch nur wüßte, zu allem bereit.
    Endlich kam Métilde, als letzte, nachdem schon um die dreißig Angestellte und Sekretärinnen das Rathaus verlassen hatten. Ein Mann, der nach ihr kam, drängelte sich an ihr vorbei und lief in größter Eile auf die Straße hinaus. Er hatte einen Regenhut auf dem Kopf, wie ihn Seeleute tragen, aus gelbem Ölzeug.
    »Sieh an, der Bürgermeister«, meinte Charlotte bedächtig.
    »Ich muß ihn sprechen!« rief Herman aus.
    Aber er versuchte nicht einmal, ihn einzuholen. Seine Ungeduld, Métilde zu begrüßen und sofort ein paar Worte mit ihr zu wechseln, war größer.
    »Ich werde morgen mit ihm reden«, sagte er.
    Es erschien ihm lediglich korrekt, den Bürgermeister persönlich von seinem Fall in Kenntnis zu setzen, und er dachte nicht mehr ernsthaft, der Bürgermeister werde beunruhigt reagieren und sofort wirksame Maßnahmen veranlassen, ihm zu helfen. Das zog er, um die Wahrheit zu sagen, nicht einmal mehr in Betracht. Ergeben und munter dachte er, das Dorf werde über sein Los befinden. Es gefiel ihm jedoch nicht, wenn man seiner Angelegenheit offenes Desinteresse entgegenbrachte. Daher fügte er mit fester Stimme hinzu, an die beiden jungen Frauen gerichtet: »Ja, morgen rede ich ganz sicher mit ihm.«
    Es beglückte ihn zu sehen, daß Métilde seine Anwesenheit mit offenkundiger Freude und Neugier aufnahm. Sie lud ihn sofort ein, auf einen Aperitif mit zu ihr nach Hause zu kommen. Und ihr Dutt war so vollkommen glatt wie am Morgen, ihre Wangen frisch und zart, ihre Stirn gebieterisch und entschlossen. Sie griff kühn nach Charlottes Arm. Sie schien den gleichen unwiderstehlichen Drang zu haben wie Herman, den laxen Körper ihrer Freundin zu berühren, denn er beobachtete, wie sie ihn bearbeitete, ihn knetete, ohne einleuchtenden Grund, aus einer unwiderstehlichen Anwandlung heraus. Sie packte Charlotte an der Taille, als wolle sie ihr beim Aufstehen helfen, hielt dann ihre beiden Hände zwischen ihren fest, um gleich darauf unvermittelt ihre Schultern, ihren Nacken zu betasten, wobei sie unbeherrschte, wohlige kleine Seufzer ausstieß, und Herman, der sie um die Freiheit beneidete, Charlotte auf solch ungewöhnliche Art zu behandeln, fragte sich, welcher Art Übereinkunft zwischen ihnen Métilde dieses Privileg verdankte, das sie da in der Eingangshalle des Rathauses auf so selbstverständliche Weise ausübte, vor den Augen eines Fremden.
    Charlotte ließ sich alles gefallen, ohne mit der Wimper zu zucken. Plötzlich gereizt, als wäre sie zum wiederholten Male an irgend etwas gescheitert und vor ungestilltem Begehren außer sich, ließ Métilde ihre Freundin los und rief Herman zu: »Lassen Sie uns jetzt zu mir gehen. Sie werden mir helfen, sie zur Vernunft zu bringen.«
    Und Charlotte lachte fröhlich auf.
    Bald waren sie in Métildes Zimmer im letzten Stock des Hauses der Bäckersleute, die es ihr für tausendfünfhundert Franc vermieteten, eine ungeheure Summe,wie Herman fand. Aber es gab im Dorf nur wenige Zimmer zu mieten. Als sie den etwa dreißig Kilometer entfernten elterlichen Hof verlassen hatte, um im Rathaus zu arbeiten, hatte Métilde das Angebot der Bäcker erleichtert angenommen. Herman meinte im übrigen zu verstehen, daß man die Gier der Kaufleute nicht unwürdig, sondern einfach normal fand; sie waren hochgeschätzt aufgrund ihres Einflusses auf den Bürgermeister, ihres Beziehungsnetzwerkes in der ganzen Gegend und sogar über L. hinaus, vielleicht auch aufgrund der unbestreitbaren Majestät ihrer Gattinnen, die mal sehr aufrecht und streng, mal leicht vorgeneigt und anmutig hinter der Registrierkasse saßen, zwölf Stunden am Tag – und ihre Anmut war wahrlich durch nichts zu erschüttern, weder durch den Abend und die Müdigkeit noch durch die Bescheidenheit eines Kaufs.
    Herman war überrascht, Métildes gepflegtes Zimmer voller Bücher vorzufinden. Es waren lauter Werke über Buchhaltung, Lehrbücher zur Benutzung von Textverarbeitungsmaschinen, Leitfäden zur autodidaktischen Sekretärinnenausbildung, Abhandlungen über Marketingstrategien und die verschiedensten Mittel

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