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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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geahnt, daß Herman nicht mehr schlief. Sie lächelte ihm breit zu, was ihren welken Zügen eine gewisse elegante Schönheit verlieh, und nickte unbefangen und arglos, zufrieden, Herman wiederzusehen. Dann lehnte sie ihre Stirn an die Scheibe und rührte sich nicht mehr. Er fragte sich eine Spur gereizt, was sie wohl hatte erraten lassen, daß er wach war und zu ihr hinüberschaute. Und was konnte er dann anderes denken als dies: daß sie es gespürt hatte? Aus Taktgefühl traute er sich nicht, den Vorhang zuzuziehen. Er befürchtete auch, damit den dörflichen Gepflogenheiten zuwiderzuhandeln und Gefahr zu laufen, daß siedann überall herumerzählen würde, er verstecke sich, kaum sei er eingezogen.
    Er verließ sein Zimmer, es war sechs Uhr. Als er im stillen Hotel in den Speisesaal hinunterging, hatte er das Gefühl, aus allen möglichen Ecken beobachtet zu werden, doch er begann, merkte er, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, allem Anschein zum Trotz nie allein zu sein, und sogar, neben der anhaltenden, jedoch nachlassenden Gereiztheit, eine schüchterne Art von Vergnügen daran zu finden.
    Er stand jetzt mit aufgespanntem Regenschirm auf der Hauptstraße.
    Was für eine Schande, sagte er sich, den ganzen Nachmittag geschlafen zu haben, statt Rose zu suchen, solange es noch Tag war.
    Dann zog er beinahe fröhlich den Kopf ein, krümmte den Rücken und ging in Richtung Rathaus. Diesmal schaute er nicht zu den Läden hinüber, denn er dachte, nun, da er mitten im Dorf wohnte, müßte er die kalten, forschenden Blicke der Ladeninhaberinnen mit ihren vielen Bändern und dem eingezwängten Busen nicht mehr erdulden. Im übrigen war es alles andere als sicher, wie er für sich bemerkte, ob man ihn überhaupt noch auf diese Art angesehen hätte, wenn man ihn aus dem Relais kommen sah. So war also alles bestens. Er hielt bei der Coop und machte ein paar Besorgungen.Er hatte nur noch sehr wenig Geld. Und im Dorf gab es weder Bank noch Geldautomaten. Er würde bis nach L. fahren müssen, was er als lästig und, ohne daß er wußte warum, beunruhigend empfand. War es wohl angezeigt, sich aus einem anderen Grund, als nach Paris heimzukehren, aus dem Dorf zu entfernen?
    Dann bemerkte er in der großen, erleuchteten Eingangshalle des Rathauses Charlotte, die träge auf einem Stuhl saß, die Hände in den Jackentaschen, die Beine ausgestreckt. Entzückt über diesen Vorwand, das Rathaus zu betreten, wo es ihn schon seit seinem Erwachen hinzog, stieß er die Glastür auf und grüßte Charlotte fröhlich, die ihm, wie immer, ohne Überraschung, freundlich und neutral antwortete. Was sie hier tue? Sie warte auf Métilde, die um halb sieben Schluß mache. Ob sie jeden Abend auf sie warte? Oh nein, sie hätten sich heute ausnahmsweise verabredet. Normalerweise helfe sie um diese Zeit ihrer Mutter im Relais.
    Herman stellte seinen Schirm ab, nahm sich einen Stuhl. Die emsigen Angestellten kamen und gingen in dem gleichen energischen Schritt wie am frühen Morgen, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und Herman begriff, daß ihr Pflichtbewußtsein durch nichts gestört werden durfte. Charlotte betrachtete den Fliesenboden, ihre Füße, Langeweile schien ihr fremd zusein. Ihre Mundwinkel, ihre Augen waren von kleinen Falten gezeichnet. Mit etwas verworrenem Mitleid bemerkte Herman, daß ihr Körper unter der Bluse, die sie anders als die anderen locker gebunden trug, für eine junge Frau schlaff war und unvorteilhaft wirkte, wie sie sich da fast hinlümmelte, mit einer Gleichgültigkeit, die Herman rührte, ja bekümmerte. Erneut überkam ihn der ärgerliche, schmerzhafte Drang, sie zu packen und zu schütteln, damit alles aus ihrem Mund herauskam, was sie enthielt, was sie war, wovon er annahm, es wäre auf unbegreifliche Weise gewöhnlich und flach, was jedoch aus ebendiesem Grund sein Verlangen, mehr zu erfahren, seine Neugier und seine Ungeduld weiter anstacheln würde; und, so sagte er sich, je gewöhnlicher es wäre, desto weniger könnte sein Verlangen gestillt werden und desto mehr würde seine Phantasie dem hinterherjagen, was er dunkel als Charlottes innerstes Wesen erahnte, das vielleicht ihm allein noch verborgen war. Doch es sah nicht so aus, als habe sie je die Absicht oder die Fähigkeit gehabt, irgend etwas zu verbergen, es sah nicht so aus, als könne sie sich auch nur den geringsten Grund dafür vorstellen, dies zu tun.
    Herman rückte seinen Stuhl näher an den von Charlotte heran, die ihm zerstreut zulächelte.

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