Ein Tag zu lang
Wo sie denn im Relais genau wohne, dürfe er das erfahren? Nun,warum nicht, im Zimmer elf, mit dem Vorsteher, da lebe sie seit drei Jahren. Sie lebe also mit Alfred zusammen? Etwas erstaunt über Hermans Verblüffung, zuckte Charlotte freundlich mit den Achseln. Mit Alfred, ja, Herman und sie seien also Nachbarn, im übrigen zähle das Zimmer elf zu den besten und teuersten des Hotels, aber bezahlen tue es natürlich Alfred allein. Charlotte habe jedoch keine Bänder? Sie lachte amüsiert auf.
»Wir sind nicht verheiratet«, erklärte sie, »auch nicht verlobt, deshalb noch keine Aussicht auf Bänder für mich.«
Sie wurde plötzlich sehr vergnügt, wie nach einem guten Witz. Wie es dazu gekommen sei, fragte Herman mißgestimmt, daß sie bei Alfred einzog? War das nicht ein etwas absonderliches Leben? Oh, nein, denn Charlotte hatte lange ihr eigenes Zimmer gehabt, bis sie dreiundzwanzig oder vierundzwanzig war, im ersten Stock, zum Hof hin, dann hatten ihre Eltern es gebraucht, um einen zusätzlichen Gast unterzubringen, und da man nicht wußte, wohin mit Charlotte, hatte ihre Mutter vorgeschlagen, sie könnte zum Vorsteher ziehen, der sie gern mochte und sofort zugestimmt hatte und der im übrigen den ganzen Tag nicht da war und sie kaum störte. So hatte ihr Leben mit Alfred begonnen. Charlotte hatte nichts daranauszusetzen. Es war allen damit gedient. Und war sie im übrigen nicht etwas zu alt, um für sich allein ein Zimmer zu beanspruchen, das Geld einbringen konnte, auch wenn sie andererseits freilich im Relais arbeitete, soviel sie konnte?
Herman lachte höhnisch auf, und da das Thema ihn verdroß und zornig machte, ließ er es fallen, um sich nach Gilbert zu erkundigen, Charlottes Bruder. Er berichtete ihr, Gilbert habe ihm ein Tennisdoppel gegen den Landrat vorgeschlagen, zu dem er, Herman, jedoch keinerlei Lust habe.
Charlottes Wangen erröteten leicht, und zum ersten Mal seit Beginn ihrer Unterhaltung wandte sie sich Herman zu und blickte ihm direkt in die Augen. Der Ton ihrer Stimme blieb jedoch unverändert, etwas schwerfällig, teilnahmslos. Sie sprach oft Wörter falsch aus, was Hermans Ohr, ob er wollte oder nicht, beleidigte. Er solle nicht ablehnen, sagte sie, denn Gilbert wäre darüber sehr betrübt und es gebe sicher einen wichtigen Grund, warum Gilbert Herman als Partner wünsche, im Zuge seiner Bemühungen um den Landrat seit zwei oder drei Jahren, die jetzt konkrete Ergebnisse zeigen müßten, und warum sollte Herman nicht dazu beitragen, wenn es in seiner Macht stand? Gilbert verdiene es, daß man ihm half, daran glaubte Charlotte fest. Und ihm zufolge gebe es, wenn man in einemso abgelegenen Dorf wohne wie diesem, keine andere Möglichkeit aufzusteigen, als sich auf die starken Schultern einer gutgestellten Persönlichkeit zu stützen, ihr Wohlwollen zu erringen und sich sogar, wie Gilbert für Lemaître, unentbehrlich zu machen. Dieses Tennisspiel mit Herman wäre wahrscheinlich die Krönung einiger bestimmter Anstrengungen Gilberts, deren genaue Art Charlotte nicht kannte, doch er habe von Anfang an bewiesen, daß er zu vielem bereit sei, um geschätzt zu werden, mit einer Selbstlosigkeit, die Charlotte bewundert und unterstützt habe, denn sie selbst könne sich keinerlei Ehrgeizes schmeicheln. Daß Gilbert zu allem bereit war, ja, das bewunderte sie. Daß er, wenn es sein mußte, Stolz, Konventionen und Anstand fahrenließ, ja, das bewunderte sie auch. Denn sie selbst war viel zu schwach und zu dumm, um mit solcher Macht irgend etwas zu begehren, das war eben so.
Charlotte fügte noch eine Menge Floskeln, Klischees und verzerrte Redensarten hinzu, denen Herman nicht mehr zuhörte. Er begnügte sich damit, die Stirn zu runzeln und sie unbefriedigt anzuschauen. Und er hielt sich mit größter Mühe zurück, sie auf die eine oder andere Art zu berühren, zu betatschen, ihre Brust zu begrapschen, voller Mitleid und mit etwas Groll.
»Und Alfred«, fragte er, »was meinst du, was er für dich tun wird?«
Aber sie hatte keine Ahnung, was man für sie tun könnte, da sie ja nichts wünschte. Es genügte, daß er etwas für ihre Eltern tat, indem er im Relais statt im Hôtel du Commerce wohnte, dem anderen Gasthaus im Dorf, wo die Preise etwas niedriger waren. Sie hatte keinen Grund zur Klage. Alle behandelten sie gut, angefangen mit Alfred, der die Güte gehabt hatte, sein Zimmer mit ihr zu teilen. Charlottes Mutter gewährte ihm deswegen keinen Preisnachlaß.
»Du teilst nicht sein
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