Ein Tag zu lang
weniger unglaublich bleichen Blond als das aller anderen ringsum. Und da ging es Herman durch den Kopf, daß der Bürgermeister sich vielleicht, wie Alfred, die Haare färbte. Weder der Bürgermeister noch Herman saßen aufrecht auf ihren Stühlen. Das eisige Wasser, das gegen die Fenster peitschte, schien sie mit voller Wucht zu treffen. Sie krümmten sich demütig, vom Wasser, der Kälte, der Gewalt der Böen besiegt. Hermans Nase lief jetzt immer ein wenig. Wer hätte beim Anblick des so kümmerlichen, zitternden Bürgermeisters gedacht, daß ihm die Verwaltung des Dorfes oblag? Seine Tischnachbarn hielten sich alle sehr gerade und wirkten gelassen, die Frauen eingeschnürt, mit flacher Brust und hohen, gepolsterten Schultern, die vollen, rosigen Oberarme unter dem Gummi der kurzen Ärmel hervorquellend. Ihre Stirn war blaß und schimmerte. Ihr ruhiger, bläulicher Blick verwirrte Herman nach wie vor durch seine Kühle und seine Zuvorkommenheit.
Wie gut die Leute hier den Unbilden der kaltenJahreszeit widerstehen, sagte sich Herman, plötzlich ängstlich und mit leichter Scham für seinen eigenen erschlafften Körper. Sein Nachbar, der Immobilienmakler, mächtig und bleich, beugte sich zu ihm herüber.
»Ihr Haus auf der Anhöhe könnte ich Ihnen vielleicht abnehmen, kommen Sie doch einmal bei mir im Büro vorbei.«
Er roch nach Schweiß, was Herman erstaunte und mit Bewunderung erfüllte, denn er selbst schwitzte nicht mehr.
»Ja«, sagte Herman, »könnte sein, daß ich es verkaufen möchte.«
»Oh, es wird nicht so leicht weggehen, ich weiß nicht, für wieviel wir es loswerden können, vielleicht für einen Apfel und ein Ei«, meinte der Makler hastig.
Doch Herman zuckte gleichgültig mit den Achseln. Der Aperitif war ausgeschenkt, und er verstand, daß jetzt von ein paar aktuellen Angelegenheiten die Rede war, für welche die Kaufleute sich offenbar pflichtschuldigst interessierten. Die Bäckerin vermerkte die vorgeschlagenen Lösungen in einem Notizbuch. Man sprach halblaut und bedächtig. Nur Herman und der Bürgermeister reckten den Hals, um besser zu hören, und selbst so schnappte Herman nur hier und da einen Gesprächsfetzen auf. Es ging um eine Familie, deren drei Kinder dringend dem gefährlichen Einfluß ihrer alkoholkranken und liederlichen Eltern entzogen werden sollten. Die Inhaberin des Geschenke- und Souvenirladens berichtete in schulmeisterlichem Ton: Diese Leute hätten ihr innerhalb von vierzehn Tagen zwei Videokassetten mit pornographischen Filmen abgekauft. Und diese, fuhr der Fischhändler fort, der eines Abends an ihrem Fenster vorbeigekommen war, schauten sie sich im Familienkreis an, in Anwesenheit der Kinder, alle noch am Küchentisch, kaum war das Abendessen zu Ende, die Eltern tranken um die Wette und der Vater wurde dann so hochrot im Gesicht, daß man das Schlimmste befürchten konnte.
»Also, ich werde ihnen nichts mehr verkaufen«, sagte die Geschenkehändlerin.
Das Paar besaß kein Auto, sie würden also nicht nach L. fahren können, um sich weitere Filme zu besorgen. Es genügte, sie genau zu überwachen, um sicherzugehen, daß sie keine im Versandhandel kauften. Man würde den Briefträger befragen. Als nächstes ging es um eine Verbannung. Ein gewisser junger Mann, dem der Immobilienmakler für zweitausend Franc monatlich eine Unterkunft vermietete, aus einem Nachbardorf gekommen, um in der Saison für die Pariser zu arbeiten (als Gärtner und Laufbursche), fand sich jetztohne Arbeit und ohne Geld wieder. Er bezahlte seine Miete nicht mehr, beklagte sich über den Preis. Der Immobilienmakler verlangte, daß man ihn loswurde. Nach kurzer Beratung wurde beschlossen, so verstand Herman, ihn des Dorfes zu verweisen. Der Wirt des Hotel du Commerce, der Frisör und Charlottes Vater würden ihn im Morgengrauen wecken, ruhigstellen und mit dem Auto etwa zwanzig Kilometer aus dem Dorf hinausfahren, dort aussetzen und ihm verbieten, wieder zurückzukehren. In den letzten zehn Jahren waren schon vier Verbannungen durchgeführt worden, alle erfolgreich – sie betrafen jedesmal kürzlich zugezogene Personen, die meinten, sie könnten sich aus ihren finanziellen Nöten retten, indem sie sich gegen die im Dorf üblichen Preise auflehnten.
»Das kommt bei uns nicht in Frage«, sagte der Immobilienmakler Herman ins Ohr.
Er krempelte seine Hemdsärmel hoch und schnaufte laut. Herman dagegen gelang es nicht, sich aufzuwärmen. Selbst sein Gehirn war mit Wasser vollgesogen und
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