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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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einzigen Anzug gebügelt, den Leinenanzug, den er seit dem Sommer ununterbrochen trug, und er hatte sich zur Feier des Tages rasiert und die Haare im Nacken gestutzt. Er war aufgeregt, angespannt. Man erwies ihm, das war ihm klar, eine ganz besondere Gunst, indem man ihn zu einem Anlaß dazubat, wo sonst nur Kaufleute geladen waren. Ihm schien, der Bürgermeister selbst kam da in den Genuß einer Auszeichnung, die keineswegs von Dauer sein mußte und zu der er sich beglückwünschen konnte, Bürgermeister hin oder her. Und er, Herman, der ehemalige Pariser, hatte sich dieses Privileg durch sein untadeliges Verhalten erworben, wahrscheinlich auch durch seine mutmaßliche Befähigung, eines Tages wertvolle Dienste erweisen zu können, aufgrund seiner Lehrerwürde, die ihn zu einem guten Ratgeber machte, auch wenn er sich im Moment dem Müßiggang hingab und seine Erscheinung meist vernachlässigte.
    Als er in den dunklen Laden trat, bimmelten die Glöckchen an der Tür. Sofort war die Metzgerin da, sie führte ihn über die traditionelle schmale, gewundene Treppe in den ersten Stock. Alle Gäste seien eingetroffen, sagte sie ihm, und Herman sah im Halbdunkel den schwachen Schimmer der aufgetürmten Masse ihres straff hochgesteckten weißlichen Haars. Eingeschüchtert betrat er das Eßzimmer, in dem eine lange Tafel mit fünfundzwanzig oder dreißig Gedecken stand, und setzte sich hastig an den Platz, den die Gastgeberin ihm zuwies, zwischen Charlottes Mutter und dem Leiter des Immobilienbüros im Dorf. Der Raum war, wie in den alten Häusern des Dorfkernsüblich, klein und niedrig, durch breite Deckenbalken verdunkelt, spärlich mit Fenstern versehen. Die Tafel füllte ihn ganz aus. Licht kam nur von einer Stehlampe in einer Ecke, daher brauchte Herman eine Weile, bis er die Züge der anderen Gäste erkennen konnte. Und in dem überdimensionierten, riesigen Kamin brannte im Rücken der Antiquitätenhändler, eines hochnäsigen Paars, ein großes Feuer; aber der prasselnde Regen klatschte in Abständen gegen die Scheiben, und die beiden großen Parabolantennen, die kürzlich auf einer der Dachschrägen angebracht worden waren, schlugen im tosenden Wind gegeneinander.
    Von Feuchtigkeit völlig durchdrungen, saß Herman gekrümmt auf seinem Stuhl. Er befürchtete ein wenig, sich der Ehre, die man ihm erwies, nicht würdig zu zeigen, da er nicht wußte, was der Verhaltenskodex hier unter den Kaufleuten vorschrieb, etwa ob er sich sofort am Gespräch beteiligen sollte oder abwarten, bis man ihn ansprach. Von den getäfelten Wänden, dem alten Stuck ging ein leichter Modergeruch aus.
    Da sind also die Leute, die meine Frau und meinen Sohn beherbergen, dachte Herman verwirrt. Was sagen sie wohl dazu, sie im Haus zu haben?
    Die Schuhhändler, der Mann und die Frau, saßen ihm gegenüber. Wußten sie wirklich, wer Herman war? Eigentlich konnte es keinem im Dorf entgangensein, doch diese beiden ließen sich in keiner Weise anmerken, daß sie den nächsten Verwandten ihrer ewigen und vielleicht ungelegenen Gäste vor sich hatten.
    Werden sie mich nicht bitten, Miete zu entrichten? fragte sich Herman. Und warum hat Rose sich gerade ihr Haus ausgesucht?
    Er versuchte, mit einem der beiden Blickkontakt aufzunehmen, in der Hoffnung auf ein Zeichen des Einverständnisses, auf eine kleine Geste, die ihm zu verstehen gäbe: Ja, sie sind bei uns, besuchen Sie sie doch einmal, kommen Sie und vergewissern Sie sich ihrer Gegenwart und ihres Glücks, und warum sollten sie dann nicht mit Ihnen reden, warum sollten sie nichts zu Ihnen sagen?
    Doch als die Augen des Schuhhändlers Hermans Blick begegneten, war darin nichts zu entdecken als jenes kurze Aufleuchten konventionellen und höflichen Wiedererkennens, das man hier jedem zuteil werden ließ. Also bedachte Herman, da er gerade erst angekommen war, aus Höflichkeit jeden der Gäste mit dem gleichen Blick, begleitet von einem Kopfnicken, wenngleich er noch Mühe hatte, sie alle deutlich zu erkennen. Da waren die Takakwarenhändler, der Sparkassenfilialchef, die Leiter der Coop, Café- und Hotelwirte, die beiden Apothekerinnen, die Leiterin der Fahrschule, Bäcker, Metzger usw., und der Bürgermeister persönlich, ganz in Hermans Nähe auf der anderen Tischseite, und Herman recht ähnlich, wie ihm plötzlich schien: Sie waren beide auffallend schmächtig, geduckt, sie schauderten und ihr Haar war feucht, das des Bürgermeisters unleugbar heller als seines, aber von einem rötlicheren,

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