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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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ab und ließ ihn sehr mager wirken. Voller Entsetzen blieb Herman stehen. Warum hatte er Angst? Weder Rose noch das Kind zitterten, trotz der Kälte. Sie hatten ihren gewohnten Gesichtsausdruck, gelassen, etwas entrückt, aber nicht so viel anders als früher, daß Herman vor Schrecken hätte erstarren müssen. Doch das tat er. Der Regenschirm fiel herunter und rollte in die Gosse. Rose sah ihn im Vorbeigehen an und lächelte ihm zu. Es war ein distanzierter, unpersönlicher Blick, ein reines Anstandslächeln. Herman kam es vor, als müßte Roses Arm ihn unweigerlich gestreift haben, denn der Gehweg war nicht breit. Aber er hatte es nicht gespürt, er war sich sogar sicher, daß keine reale Berührung stattgefunden hatte. Es kostete ihn viel Überwindung, doch er drehte sich um und blickte ihnen nach, erleichtert, noch immer schaudernd. Sie entfernten sich schnell, leichtfüßig, mit außerordentlich anmutigen, geflügelten Schritten. Die dünnen Beine des Jungen schienen von Fäden gezogen zu werden, so zart, daß er zu tanzen schien. Müßte Herman sie nicht einholen und in seine Arme schließen? Nachdem ihn vorhin allein die Angst vor Gilbert davon abgehalten hatte, mit Métilde zu schlafen, war er vielleicht deswegen Rose gegenüber jetzt verlegen, auch wenn er dachte, daß sie nichts davon wissen konnte.
    Er zwang sich jedoch, ihnen zu folgen. Er rief sogar ganz leise: »He, Rose!«
    Aber er war froh, daß sie sich nicht umdrehte. Die beiden blieben bald vor dem Schaufenster des Schuhgeschäfts stehen, und Rose schien die Hand nach der Tür auszustrecken. Und bevor Herman die Tür aufgehen sah, waren sie schon drinnen, waren sie rasch in dem dunklen Laden verschwunden, und die Tür,wenn man sie denn geöffnet hatte, war schon wieder zu. Auf der Hauptstraße regte sich nichts mehr. Aus den Fenstern des Schuhhändlerhauses drang nicht der geringste Lichtschein. Herman hörte nichts, nicht einmal den Regen, an den sein Ohr sich so sehr gewöhnt hatte, daß es ihn nicht mehr beachtete, weder bei Tag noch bei Nacht.
    Er ging schnell ins Relais zurück, wagte es jedoch nicht, Alfred zu erzählen, was er gesehen hatte. Er hatte schon bemerkt, daß der Vorsteher vollkommen entspannt vor seinem Fenster hin und her ging, unter den aufmerksamen und stets wohlwollenden Augen der Gestalt gegenüber, und nur manchmal einen Blick durchs Fenster warf, ohne je von diesem Gesicht zu reden, aber auch ohne dessen Anblick zu meiden.
    Gleich am nächsten Tag zog es Herman jedoch zu dem Schuhgeschäft zurück.
    Wenn Rose mich erkannt hat, sagte er sich, was mag sie dann von meinem Benehmen gehalten haben?
    Er redete sich jetzt ein, er würde sein seltsames Verhalten vom Vortag wettmachen, wenn er Rose deutlich zu verstehen gäbe, daß er sie suchte. Er stand eine Weile vor dem Schaufenster herum, das vom Regen ganz stumpf war. Es gab hier nichts als Hausschuhe, Espadrilles und Gummistiefel zu kaufen. Er fürchtete sich hineinzugehen, die Vorstellung, Rose vielleichtwiederzusehen, versetzte ihn in Panik. In dem leeren Laden empfing ihn die Schuhhändlerin mit jenem verführerischen und kalten Lächeln, das Herman im Dorf jetzt gut kannte und von dem er spürte, daß er es allmählich nachahmte, indem er die Zähne weiter entblößte, als er es je getan hatte, und den Kopf neigte, bis er fast mit dem Kinn an die Brust stieß und folglich auf eine ungewollt verschlagene Weise von unten hochschaute. Fest in ihre Bluse eingezwängt, atmete die Frau mühsam und geräuschvoll. Ihre Bänder waren so fest geschnürt, daß ihr Gesicht hochrot war, sie hielt sich übertrieben aufrecht und führte oft unwillkürlich die Hand an die Brust, wie um sich bei ihr dafür zu entschuldigen, was sie ihr zufügte. Herman war peinlich berührt und versuchte, locker zu wirken. Er schaute sich im Laden etwas um; dann fragte er allzu unvermittelt: Ob sie hier Zimmer habe, die nicht von den Bewohnern des Hauses genutzt würden?
    »Ja, wir haben zwei oder drei leere Zimmer«, antwortete sie liebenswürdig und neigte den Kopf einmal, zweimal, obwohl ihr das Atmen mit jeder Bewegung noch schwerer zu fallen schien. Ihr zum Dutt aufgestecktes Haar war so blaß, so fein, daß Herman Zweifel daran kamen, ob es sich um Materie handelte oder nicht vielmehr um eine Art unauffälligen, gewöhnlich wirkenden Lichtkranz.
    »Und könnte es sein«, fuhr Herman fort, »könnte es sein, daß in einem dieser Zimmer zur Zeit jemand wohnt?«
    »Natürlich, das kann sein. Wer

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