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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Ndiaye
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könnte das je mit Sicherheit verneinen? Zur Zeit«, meinte die Frau, »muß es wohl so sein.«
    Sie lachte ein wenig, etwas geziert. Doch Herman spürte, daß sie eine um so betörendere und ungezwungenere Miene aufsetzte, als sie über seine Fragen verstimmt war. Er hätte sie nicht nötigen dürfen, begriff er, das Thema der Dauerbewohner, das im übrigen allseits bestens bekannt war, auch nur ansatzweise zu erwähnen. War es jedoch nicht berechtigt, daß er seinerseits eine Bestätigung für die Spur wollte, auf die ihn seine gestrige Begegnung mit Rose gebracht hatte?
    Kaum war er wieder im Hotel, machte Alfred ihm schon strenge Vorwürfe für seinen Alleingang bei der Schuhhändlerin, von dem er Wind bekommen hatte, bevor Herman überhaupt zurückgewesen war. Herman habe schwer gegen den guten Ton verstoßen, sagte Alfred. Nie wieder dürfe er irgend jemanden im Dorf über diese belanglosen Phänomene befragen. Dann, mit einem triumphierenden Lächeln: »Und, hatte ich Ihnen nicht von Anfang an versprochen, daß Sie sie wiedersehen würden?«
    »Aber ich möchte gern mit ihnen reden«, sagte Herman.
    »Das geht nicht, sie werden Ihnen nie antworten, das ist so. Und warum sie quälen? Versuchen Sie jetzt«, sagte Alfred feierlich, »im Dorf ebenso vollkommen glücklich zu sein, wie sie es auf ihren ewigen Wanderungen sind, ohne Sorgen, ohne Streben, frei von allen lästigen Beziehungen.«
    Er senkte die Stimme. Er stand mit dem Rücken zum Fenster in Hermans Zimmer, aber Herman konnte genau sehen, das Gesicht gegenüber ließ ihn nicht aus den Augen.
    »Wir müssen bleiben, nicht wahr, wir bringen es nicht übers Herz, sie zu verlassen«, flüsterte Alfred mit feuchten Augen.

    4 Die Tage im Dorf flossen dahin, und Herman machte sich nicht mehr die Mühe, sich nach dem Datum zu erkundigen. Er lag auf seinem Bett, die Hände im Nacken verschränkt, und beobachtete durch die offene Tür das Kommen und Gehen, und das war alles, was er den ganzen Tag lang tat. Wenn Charlotte vorbeiging, setzte er sich auf, rief sie herbei, und sie wechselten ein paar Worte über den Regen. Er hätte Alfreds Angebot, sich morgens von ihr dasFrühstück bringen zu lassen, jetzt gerne angenommen. Doch da es ihm vorkam, als gebe sich Alfred seit seiner Begegnung mit Rose und dem Kind, seit er wußte, daß die beiden sich im Dorf eingenistet hatten, weniger Mühe, ihn vom Bleiben zu überzeugen, weil er sicher meinte, das stehe nun sowieso fest, hatte Herman Angst, Charlottes Dienste würden schließlich auf seiner eigenen Rechnung erscheinen und nicht auf Alfreds, wie dieser es zunächst vorgeschlagen hatte, damals, so erinnerte sich Herman, als Alfred noch befürchten mußte, er würde nach Paris zurückkehren. Und im übrigen hatte Herman aus lauter Trägheit den absurd hohen Pensionspreis noch immer nicht angesprochen. Er konnte sich leicht vorstellen, daß Charlottes Mutter die Dienste ihrer Tochter sehr teuer bezahlen ließ. Sie jammerte mit wohlberechneter Regelmäßigkeit darüber, daß ihre beiden Kinder ihr noch auf der Tasche lagen, sie beklagte den Mangel an Arbeitsplätzen im Dorf und sah sich sehr schnell und willfährig dem Ruin entgegengehen, durch die Schuld dieser beiden jungen Müßiggänger. Und alle Beziehungen, die sie hier oder da knüpfen konnten, Charlotte im Relais, Gilbert bei seinen Ausflügen in die Kreisstadt, wurden von ihr so entschieden gutgeheißen, daß es schwierig gewesen wäre, sie ohne ihre Genehmigung abzubrechen. Sie hatte, Alfred zufolge,der ihr mißtraute, den für das Dorf typischen Geschäftssinn.
    Sie suchte Herman in seinem Zimmer auf und sagte mit einer tiefen Verbeugung: »Heute abend findet in der Metzgerei das große jährliche Abendessen der Kaufleute statt, gegen acht Uhr. Werden Sie uns beehren, lieber Monsieur Herman?«
    Herman, der noch immer auf dem Bett lag, hob kaum den Kopf und fragte, ob der Schuhhändler zugegen sein werde.
    »Natürlich, alle Kaufleute und Gastwirte des Dorfes werden da sein, sowie der Bürgermeister. Sie werden ein Ehrengast in unserer Mitte sein, uns liegt sehr viel daran, Sie dabeizuhaben«, säuselte Charlottes Mutter.
    Sie huschte aus dem Zimmer, der Zustimmung Hermans gewiß, und ihre Espadrilles klatschten schlaff die Treppe hinab, ein kleines Geräusch, das Hermans Ohr inzwischen so vertraut und lieb geworden war wie das des Regens.
    Am Abend hatte er nur ein paar Schritte zu gehen, da die Metzgerei gleich nebenan lag. Charlotte hatte ihm seinen

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