Ein Tag, zwei Leben (German Edition)
genau deswegen, weil ich ein Leben haben möchte. Und du kannst jetzt aufhören, den Kopf zu schütteln, als würde es eine Rolle für dich spielen. Du kennst mich doch nicht mal, was kümmert es dich.«
Nachdem er meinen Oberschenkel frisch verbunden hatte, schob er mein Krankenhaushemd ohne hinzusehen bis direkt unter meine Brust nach oben und legte mir die Decke von unten bis über die Taille. Das war wirklich gentlemanlike. Auch wenn man das von seinem sonstigen Verhalten nicht sagen konnte. Der Rest von ihm strahlte Wut aus.
» Ich kenne dich nicht. Aber was mich kümmert, ist, dass ich dazu gezwungen wurde, Beihilfe zum Selbstmord zu leisten.«
» Was?«
Er ignorierte mich und riss das Pflaster von dem Schnitt unter meinen Rippen ab und studierte ihn. » Du hast also am Oberschenkel angefangen, bist zu diesem hier übergegangen, und dann war dein Arm an der Reihe?«
Ich blinzelte. » Wie …? Woher weißt du …?«
Er schüttelte wieder den Kopf und ich hätte am liebsten geschrien. » Sie werden jedes Mal glatter und tiefer. Ich habe gestern im Laden deine Tasche gesehen. Du hast das geplant, nicht wahr?«
Ich sah weg.
» Ich wusste es. Und dieses Notizbuch? Lauter Pläne, nicht wahr?«
» Ja, aber nicht für das, was du jetzt glaubst. Ich meine, schau dir das doch mal an, Ethan. Hältst du mich für so dumm? Glaubst du, ich würde mir in den Oberschenkel, den Bauch und den Oberarm schneiden, wenn ich sterben wollte? Meinen Eltern gehört ein Drogerieladen. Glaubst du, ich kenne nicht das ganze Repertoire – wie man sich umbringt beziehungsweise es verhindert?«
Er verschränkte die Arme, als ich zum Angriff überging. Irgendwie ärgerte mich das noch mehr.
» Glaubst du etwa, ich habe das gewollt? Dass mich alle für verrückt halten? Glaubst du, ich würde mich freiwillig in diese Situation bringen? Für einen fehlgeschlagenen ›Selbstmordversuch‹ durch einen kleinen Schnitt in den Oberschenkel? Ja, okay, ich habe das getan, aber ich habe dafür meine Gründe. Und wenn du den Kram in meiner Tasche gesehen und gedacht hast, ich könnte irgendwas damit anstellen, warum hast du dann nicht einfach was gesagt?«
Ethan starrte mich an. Die Minuten dehnten sich aus. Die Worte gingen mir aus, ich war erschöpft. Gerade als ich dachte, er würde nicht antworten, fing er an zu sprechen. » Du hast …« Er presste den Kiefer zusammen. Dieses Mal schien er sich eher über sich selbst zu ärgern als über mich. » Ich habe dieses Zeug in deiner Tasche gesehen, und nur deshalb bin ich mit dir gegangen, die Dinge zu erledigen. Ich habe nach Anzeichen Ausschau gehalten.« Er blickte auf seine Hände hinunter. » Aber … Du hast nicht ins Schema gepasst. Du hast über deine Zukunft gesprochen, schienst so voller Leben zu sein.«
Danach verließ er das Zimmer. Ich hatte Panik, er könnte nicht zurückkommen. Dass er mich als eine Art Bestrafung gefesselt ließ. Doch ein paar Minuten später kehrte er zurück. Mit einer Spritze.
Ich versuchte zurückzuweichen, aber die Fesseln hinderten mich und mein gebrochenes Handgelenk tat unter dem Druck weh.
» Ethan, ich …«
Shit.
Er würde mich betäuben. Ich hatte das Problem mit den Fesseln geklärt, aber das nicht.
» Kann ich dich irgendwie davon überzeugen, dass du mich erst nach Mitternacht unter Drogen setzt?«
» Nein.« Er sah mich nicht einmal an.
» Ethan, es tut mir leid, okay? Ich war wütend. Stell dir vor, du wirst an ein Bett gefesselt und unter Medikamente gesetzt. Das macht einen nicht gerade glücklich.«
Er hielt inne. » Was hat es mit Mitternacht auf sich.«
Ich hätte am liebsten geweint. » Bitte. Bitte, tu es nicht. Es wird … es tut weh … es …«
» Du zitterst ja«, sagte er und sah mich jetzt eindringlich an.
» Es macht mir Angst. Bitte.« Ich sah ihn an und versuchte, seinem Blick standzuhalten, während er mich musterte. » Ich werde alles tun.«
Er strich mir eine Haarsträhne von den Augen, sein Blick war von Trauer überschattet. » Genau das ist das Problem, Sabine. Du könntest alles tun.« Rasch zog er die Hand weg.
Die Spritze pikste.
Die Tränen flossen in Strömen, auch wenn ich versuchte, sie wegzublinzeln. Das Medikament wirkte schnell.
» Ich bin so allein«, stammelte ich; ich fühlte mich leer und kalt, als alles von den Rändern her schwarz wurde.
» Du bist nicht allein, Sabine«, flüsterte er. » Du bist verloren.«
Das Letzte, was ich spürte, bevor ich das Bewusstsein verlor, war, dass sich
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