Ein Tag, zwei Leben
Eines Tages wirst du uns für das hier dankbar sein.«
Die Frau kam auf mich zu. Etwas von dem Hass in ihrem Blick war verschwunden und wurde durch etwas ersetzt, was noch viel schlimmer war. Mitleid. Das machte mich rasend.
» Sie brauchen sich nicht übergangen zu fühlen«, rief ich höhnisch. » Ich verspreche, dass Sie dieselbe Gesichtsbehandlung erhalten wie er.« Ich warf ihrem Kollegen einen Blick zu, der sich noch immer das Blut abwischte, das aus seiner Nase tropfte.
Ihre Augen wurden schmal, ihr Mitleid löste sich rasch in Wohlgefallen auf. Die Nadel drang in meinen Arm ein und Sekunden später verschwamm alles.
Es war eine bittere Erkenntnis: Es war die Bestätigung, dass es all die Jahre, in denen ich meine Leben heimlich und einsam gelebt hatte, richtig gewesen war, ihnen die Wahrheit nicht anzuvertrauen. Aber das war nicht der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, während mir das Bewusstsein schwand.
Was habe ich getan?
Die letzte Bitte kam mir schwer und undeutlich über die Lippen.
» Sagt es … Maddie … nicht.«
10 – Roxbury, Sonntag
Meine Augen fühlten sich an, als wären sie zugeklebt. Zuerst dachte ich, ich hätte den Wechsel vollzogen, aber dann schaffte ich es, die Augen zu öffnen. Und während die Erinnerungen zurückfluteten, rückte langsam ein Zimmer in mein Blickfeld.
Ich war noch immer in meinem Roxbury-Leben. Ich lag auf einem Bett in einem Zimmer, das nur von einer kleinen, fluoreszierenden Glühbirne erleuchtet wurde, die an der hohen Decke befestigt war. Abgesehen von dem Bett und einem Nachttisch, waren da noch ein leerer, türloser Schrank, ein abgewetzter Lehnstuhl, ein kleines, vergittertes Fenster – das anzeigte, dass es draußen dunkel war – und eine geschlossene Tür, die zweifellos verriegelt war. Nicht dass das etwas ausgemacht hätte. Meine Hand- und Fußgelenke waren – sogar über dem Gips – mit Lederriemen festgeschnallt.
Und als wäre das noch nicht schlimm genug … sie hatten mir die Uhr abgenommen.
Am liebsten hätte ich mich übergeben. Ich konnte mich kaum rühren. Wenn ich mich jetzt übergeben würde, würde alles auf mir selbst landen.
Ich schluckte ein paarmal und versuchte, meinen Magen dazu zu zwingen, sich zu beruhigen. Es half nichts, und als mein Blick wieder zum Fenster wanderte, wäre ich fast durchgedreht.
Shit. Shit. Shit
Wie spät war es?
Auf diese Weise festgeschnallt fühlte ich mich nicht fähig, den Wechsel zu vollziehen. Der Gedanke daran vergrößerte meine Panik, bis ich kurz davor war zu schreien.
Wie konnten sie mir das bloß antun?
Es gab keine Uhr. Keine Möglichkeit herauszufinden, wie spät es war. Jeden Augenblick konnte der Wechsel bevorstehen. Ich war mir nicht einmal sicher, wo ich war. Ich riss an meinen Armen, prüfte die Fesseln. Klar, keine Chance.
Ich zog in Betracht zu rufen, verzweifelt genug, um zu fragen, ob ich auf die Toilette dürfte oder so etwas; irgendetwas, wodurch ich freikäme. Doch noch bevor ich den Mund geöffnet hatte, hörte ich Schritte. Erst von einer Person, dann von zweien.
Ich wand mich hin und her und stellte fest, dass ich unter der Decke nicht meine normalen Kleider anhatte, sondern einen Krankenhauskittel. Das gab mir den Rest und heiße Tränen strömten mir über das Gesicht. Ich, die immer bestrebt war, alles unter Kontrolle zu halten, fühlte mich bei dem Gedanken, dass jemand anderes die Kontrolle übernommen hatte – über meine Bewegungen, meine Kleidung –, absolut vergewaltigt.
Das konnte einfach nicht passieren.
Ich presste den Mund zu und knirschte mit den Zähnen, um nicht zu schluchzen. Dann hörte ich Stimmen vor meinem Zimmer.
» Hier ist ein Neuzugang. Das Übliche, steht alles auf der Krankenkarte.«
» Klingt einfach.« Eine vage vertraute Stimme.
» Sei vorsichtig mit ihr. Sie ist bis auf weiteres in der SP . Sie soll im Laufe der nächsten Stunde Medikamente bekommen, die sie über Nacht ruhigstellen. Der Doc hat die Dosis schon festgelegt.«
Der andere Typ schwieg, dann sagte er: » Er will sie die ganze Nacht ruhigstellen?«
Die Antwort hörte ich nicht.
Dann der andere Typ wieder. » Also gut. Sag mal, und das hast du ihr zu verdanken?«
» Sie ist stärker, als sie aussieht.«
Ein Kichern. » Was ist mit den Fesseln?«
» Der Doc sagt, dass sie nach den nächsten Medikamenten gar nirgends mehr hingeht, deshalb kannst du sie losmachen, wenn du willst. Deine Entscheidung.« Er sagte das so, als würde er es keinesfalls
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