Ein Tag, zwei Leben
klang überraschend ruhig, obwohl er einen Blick auf die blutigen Verbände warf, die sich auf dem Tisch türmten.
Zum ersten Mal in meinem Leben überlegte ich mir, ob sie es nicht vielleicht schon immer gewusst hatten, dass sie irgendwie dahintergekommen waren. Eine Woge der Erleichterung überkam mich, als ich mit meiner Erklärung fortfuhr. Vielleicht konnten sie mir helfen, eine Lösung zu finden. Vielleicht war ich nicht so allein, wie ich immer angenommen hatte.
» Na ja, ich wollte alles überprüfen. Also testete ich nach den Haaren die Haut und …« Anstatt versuchen zu erzählen, wie ich auf mich eingestochen hatte, zog ich lieber meinen Ärmel hoch, legte den Verband frei und schnitt eine Grimasse. » Ich weiß, dass das dumm war, aber ich war echt vorsichtig und die Sache ist: Es hat funktioniert. Als ich letzte Nacht den Wechsel vollzog, hat mich keine der Wunden begleitet!«
Dad nickte und presste die Lippen zusammen. Mom saß schluchzend am Tisch. Ich beschloss, mich auf Dad zu konzentrieren. Er schien es besser aufzunehmen.
» Wie viele Stellen hast du getestet?«, fragte er.
» Nur meinen Arm, mein Bein und meinen Bauch«, sagte ich und zuckte ein wenig zusammen, als Mom nach Luft schnappte. » Aber ich war vorsichtig und keiner der Schnitte ist tief, das schwöre ich!«
» Schon gut, Sabine. Es ist nur eine ganze Menge … zu verarbeiten für deine Mutter und mich. Wir wussten schon immer, dass du … mit irgendetwas zu kämpfen hast, was andere Leute nicht haben. Gut, dass jetzt alles offen ausgesprochen ist, und wir sind dankbar, dass du uns vertraut hast.« Er kratzte sich am Hals. Das tat er immer, wenn er nervös war.
Oder log.
Instinktiv schreckte ich zurück und wandte mich an Mom. Sie weinte immer noch und sah mich dabei kaum an.
» Mom, du glaubst mir doch, oder?«, sagte ich, weil ich plötzlich Angst hatte, einen furchtbaren Fehler gemacht zu haben. Mom konnte nicht aufhören zu schluchzen, aber Dad kam um den Tisch und legte mir die Hand auf die Schulter.
» Natürlich glauben wir dir, Sabine. Wir brauchen nur ein wenig Zeit, um das alles aufzunehmen. Wie wäre es, wenn du deiner Mutter und mir ein paar Minuten Zeit gibst, um das alles zu verarbeiten, und dann reden wir noch mal darüber? Ich würde gern mehr über dein anderes Leben wissen.«
Ich fühlte mich noch immer unbehaglich, mein Blick schoss zwischen ihnen hin und her. » Okay. Ich wollte sowieso ein wenig rausgehen.« Ich stand auf. Sicher kein schlechter Zeitpunkt für einen Abgang. Dad bemühte sich offensichtlich, es zu verstehen, aber Mom kam damit nicht klar. Außerdem schrillten die Alarmglocken in meinem Kopf immer lauter.
» Würde es dir viel ausmachen, zu Hause zu bleiben? Ich glaube, es ist wichtig, dass wir darüber sprechen. Könntest du vielleicht in deinem Zimmer warten?« Dad warf mir einen Blick zu und sah dann vielsagend zu Mom, als würde er mich anflehen, ihr die Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen, bevor ich ging.
Ich wog ab. Ich hätte nie gedacht, dass Dad das alles so gut aufnehmen würde, er schien ehrliches Interesse daran zu haben, was mit mir los war. Irgendetwas nagte zwar noch immer an mir, aber wenn ich jetzt wegginge, würde das überhaupt nicht gut aussehen. Sie würden nur glauben, dass ich lüge. Und dann würde er mir niemals wieder vertrauen. Nein. Da musste ich jetzt durch, musste dafür sorgen, dass sie verstanden. Deshalb klammerte ich mich an die Hoffnung, dass es so am besten wäre, nickte Dad dankbar zu und ging in mein Zimmer.
9 – Roxbury, Sonntag
Ich presste mich gegen die Tür und strengte mich an zu hören, was Mom und Dad sagten. Mom schluchzte ein paarmal laut und Dad sagte hin und wieder ernst ihren Namen, aber sonst hörte ich ihre Stimmen nur gedämpft. Das Telefon klingelte ein paarmal, aber auch dann konnte ich nur Dads gedämpfte Stimme hören, die entspannt und formell klang. Musste wohl jemand von der Arbeit sein.
Ich wartete.
Als klar war, dass ich nicht lauschen konnte, legte ich mich aufs Bett und studierte all die Dinge ein, die ich ihnen sagen würde, wobei ich sorgfältig Beispiele auswählte, mit deren Hilfe sie alles verstehen würden. Es würde nicht einfach werden. Ich hatte mein ganzes Leben lang – und zwar zweimal – Zeit gehabt, mit dieser Existenz klarzukommen, und verstand das Ganze trotzdem noch nicht so ganz. Außerdem hatte ich Moms Gesicht gesehen, als ich ihnen von der anderen Familie erzählt hatte … Das würde kein
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